Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

er schon nicht wähle. Es war ihm unbequem,
an dem schönen Tage in der Kirche zu sitzen mit
einigen alten Leuten, und, wenn man es recht
betrachtete, schien sogar ein Anflug von philister¬
hafter Lächerlichkeit zu kleben an den diesjährigen
Wahlen, da sie eine gar so stille und regelmäßige
Pflichterfüllung waren. Fritz scheuete die Pflicht
nicht, wohl aber haßte er nach Art aller jungen
Leute kleinere Pflichten, welche uns zwingen zu
ungelegener Stunde den guten Rock anzuziehen,
den besseren Hut zu nehmen und uns an einen
höchst langweiligen oder trübseligen Ort hinzu¬
begeben, als wie ein Taufstein, ein Kirchhof oder
ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt
gerade diese Weise der Seldwyler, die sie nun
angenommen, für unerträglich und unverschämt,
und eben weil Niemand hinging, so wünschte sie
doppelt, daß ihr Sohn es thäte. Sie steckte es
daher hinter seine Frau und trug dieser auf,
ihn zu überreden, daß er am Wahltage ordent¬
lich in die Versammlung ginge und einem tüch¬
tigen Manne seine Stimme gäbe, und wenn er
auch ganz allein stände mit derselben. Allein
mochte nun das junge Weibchen nicht die nöthige

er ſchon nicht wähle. Es war ihm unbequem,
an dem ſchönen Tage in der Kirche zu ſitzen mit
einigen alten Leuten, und, wenn man es recht
betrachtete, ſchien ſogar ein Anflug von philiſter¬
hafter Lächerlichkeit zu kleben an den diesjährigen
Wahlen, da ſie eine gar ſo ſtille und regelmäßige
Pflichterfüllung waren. Fritz ſcheuete die Pflicht
nicht, wohl aber haßte er nach Art aller jungen
Leute kleinere Pflichten, welche uns zwingen zu
ungelegener Stunde den guten Rock anzuziehen,
den beſſeren Hut zu nehmen und uns an einen
höchſt langweiligen oder trübſeligen Ort hinzu¬
begeben, als wie ein Taufſtein, ein Kirchhof oder
ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt
gerade dieſe Weiſe der Seldwyler, die ſie nun
angenommen, für unerträglich und unverſchämt,
und eben weil Niemand hinging, ſo wünſchte ſie
doppelt, daß ihr Sohn es thäte. Sie ſteckte es
daher hinter ſeine Frau und trug dieſer auf,
ihn zu überreden, daß er am Wahltage ordent¬
lich in die Verſammlung ginge und einem tüch¬
tigen Manne ſeine Stimme gäbe, und wenn er
auch ganz allein ſtände mit derſelben. Allein
mochte nun das junge Weibchen nicht die nöthige

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0197" n="185"/>
er &#x017F;chon nicht wähle. Es war ihm unbequem,<lb/>
an dem &#x017F;chönen Tage in der Kirche zu &#x017F;itzen mit<lb/>
einigen alten Leuten, und, wenn man es recht<lb/>
betrachtete, &#x017F;chien &#x017F;ogar ein Anflug von phili&#x017F;ter¬<lb/>
hafter Lächerlichkeit zu kleben an den diesjährigen<lb/>
Wahlen, da &#x017F;ie eine gar &#x017F;o &#x017F;tille und regelmäßige<lb/>
Pflichterfüllung waren. Fritz &#x017F;cheuete die Pflicht<lb/>
nicht, wohl aber haßte er nach Art aller jungen<lb/>
Leute kleinere Pflichten, welche uns zwingen zu<lb/>
ungelegener Stunde den guten Rock anzuziehen,<lb/>
den be&#x017F;&#x017F;eren Hut zu nehmen und uns an einen<lb/>
höch&#x017F;t langweiligen oder trüb&#x017F;eligen Ort hinzu¬<lb/>
begeben, als wie ein Tauf&#x017F;tein, ein Kirchhof oder<lb/>
ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt<lb/>
gerade die&#x017F;e Wei&#x017F;e der Seldwyler, die &#x017F;ie nun<lb/>
angenommen, für unerträglich und unver&#x017F;chämt,<lb/>
und eben weil Niemand hinging, &#x017F;o wün&#x017F;chte &#x017F;ie<lb/>
doppelt, daß ihr Sohn es thäte. Sie &#x017F;teckte es<lb/>
daher hinter &#x017F;eine Frau und trug die&#x017F;er auf,<lb/>
ihn zu überreden, daß er am Wahltage ordent¬<lb/>
lich in die Ver&#x017F;ammlung ginge und einem tüch¬<lb/>
tigen Manne &#x017F;eine Stimme gäbe, und wenn er<lb/>
auch ganz allein &#x017F;tände mit der&#x017F;elben. Allein<lb/>
mochte nun das junge Weibchen nicht die nöthige<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[185/0197] er ſchon nicht wähle. Es war ihm unbequem, an dem ſchönen Tage in der Kirche zu ſitzen mit einigen alten Leuten, und, wenn man es recht betrachtete, ſchien ſogar ein Anflug von philiſter¬ hafter Lächerlichkeit zu kleben an den diesjährigen Wahlen, da ſie eine gar ſo ſtille und regelmäßige Pflichterfüllung waren. Fritz ſcheuete die Pflicht nicht, wohl aber haßte er nach Art aller jungen Leute kleinere Pflichten, welche uns zwingen zu ungelegener Stunde den guten Rock anzuziehen, den beſſeren Hut zu nehmen und uns an einen höchſt langweiligen oder trübſeligen Ort hinzu¬ begeben, als wie ein Taufſtein, ein Kirchhof oder ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt gerade dieſe Weiſe der Seldwyler, die ſie nun angenommen, für unerträglich und unverſchämt, und eben weil Niemand hinging, ſo wünſchte ſie doppelt, daß ihr Sohn es thäte. Sie ſteckte es daher hinter ſeine Frau und trug dieſer auf, ihn zu überreden, daß er am Wahltage ordent¬ lich in die Verſammlung ginge und einem tüch¬ tigen Manne ſeine Stimme gäbe, und wenn er auch ganz allein ſtände mit derſelben. Allein mochte nun das junge Weibchen nicht die nöthige

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/197
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/197>, abgerufen am 26.11.2024.