zweiten Blick erkannte sie jedoch ihren Sohn und ihr violettes Seidenkleid zugleich und sah, wie trefflich ihm dasselbe saß und mußte sich auch gestehen, daß er ganz geschickt und reizend ausgeputzt sei. Aber im gleichen Augenblicke sah sie auch, wie ihn seine eine Nachbarin küßte, in Folge irgend eines Unterhaltungsspieles, das die fröhliche Gesellschaft eben beschäftigte, und wie er gleicherzeit die andere Nachbarin küßte, und nun hielt sie den Zeitpunkt für gekommen, wo sie ihrem Sohne den Dienst, welchen er ihr als fünfjähriges Knäblein geleistet, erwiedern konnte.
Sie stieg ungesäumt die Treppe hinunter und trat in das Zimmer, die überraschte Gesell¬ schaft bescheiden und höflich begrüßend. Alles erhob sich verlegen, denn obgleich sie sattsam durchgehechelt wurde in der Stadt, so flößte sie doch Achtung ein, wo sie erschien. Die jungen Männer grüßten sie mit aufrichtig verlegener Ehrerbietung, und um so aufrichtiger je wilder sie sonst waren; von den Frauen aber wollte keine scheinen, als ob sie mit der achtbarsten Frau der Stadt etwa schlecht stände und nicht mit ihr
zweiten Blick erkannte ſie jedoch ihren Sohn und ihr violettes Seidenkleid zugleich und ſah, wie trefflich ihm daſſelbe ſaß und mußte ſich auch geſtehen, daß er ganz geſchickt und reizend ausgeputzt ſei. Aber im gleichen Augenblicke ſah ſie auch, wie ihn ſeine eine Nachbarin küßte, in Folge irgend eines Unterhaltungsſpieles, das die fröhliche Geſellſchaft eben beſchäftigte, und wie er gleicherzeit die andere Nachbarin küßte, und nun hielt ſie den Zeitpunkt für gekommen, wo ſie ihrem Sohne den Dienſt, welchen er ihr als fünfjähriges Knäblein geleiſtet, erwiedern konnte.
Sie ſtieg ungeſäumt die Treppe hinunter und trat in das Zimmer, die überraſchte Geſell¬ ſchaft beſcheiden und höflich begrüßend. Alles erhob ſich verlegen, denn obgleich ſie ſattſam durchgehechelt wurde in der Stadt, ſo flößte ſie doch Achtung ein, wo ſie erſchien. Die jungen Männer grüßten ſie mit aufrichtig verlegener Ehrerbietung, und um ſo aufrichtiger je wilder ſie ſonſt waren; von den Frauen aber wollte keine ſcheinen, als ob ſie mit der achtbarſten Frau der Stadt etwa ſchlecht ſtände und nicht mit ihr
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zweiten Blick erkannte ſie jedoch ihren Sohn
und ihr violettes Seidenkleid zugleich und ſah,
wie trefflich ihm daſſelbe ſaß und mußte ſich
auch geſtehen, daß er ganz geſchickt und reizend
ausgeputzt ſei. Aber im gleichen Augenblicke ſah
ſie auch, wie ihn ſeine eine Nachbarin küßte,
in Folge irgend eines Unterhaltungsſpieles, das
die fröhliche Geſellſchaft eben beſchäftigte, und
wie er gleicherzeit die andere Nachbarin küßte,
und nun hielt ſie den Zeitpunkt für gekommen,
wo ſie ihrem Sohne den Dienſt, welchen er ihr
als fünfjähriges Knäblein geleiſtet, erwiedern
konnte.
Sie ſtieg ungeſäumt die Treppe hinunter
und trat in das Zimmer, die überraſchte Geſell¬
ſchaft beſcheiden und höflich begrüßend. Alles
erhob ſich verlegen, denn obgleich ſie ſattſam
durchgehechelt wurde in der Stadt, ſo flößte ſie
doch Achtung ein, wo ſie erſchien. Die jungen
Männer grüßten ſie mit aufrichtig verlegener
Ehrerbietung, und um ſo aufrichtiger je wilder ſie
ſonſt waren; von den Frauen aber wollte keine
ſcheinen, als ob ſie mit der achtbarſten Frau der
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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/160>, abgerufen am 16.01.2025.
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