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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Handhabe, um ihr donnerndes: Du sollst nicht
lügen! dem kleinen erstaunten Erfindungsgenie
in die Ohren zu schreien. Wenn Fritzchen eine
solche derbe Lüge vorbrachte, so sagte Frau Regel
einfach, indem sie ihn groß ansah: "Was soll
denn das heißen, Du Affe? Warum lügst Du
solche Dummheiten? Glaubst Du die großen
Leute zum Narren halten zu können? Sei Du
froh, wenn Dich Niemand anlügt und laß der¬
gleichen Späße!" Wenn er eine Nothlüge vor¬
brachte, um eine begangene Sünde zu vertuschen,
zeigte sie ihm mit ernsten aber liebevollen Wor¬
ten, daß die Sache deswegen nicht ungeschehen
sei und wußte ihm klar zu machen, daß er sich
besser befinde, wenn er offen und ehrlich einen
begangenen Fehler eingestehe; aber sie bauete
keinen neuen Strafproceß auf die Lüge, sondern
behandelte die Sache ganz abgesehen davon, ob
er gelogen oder nicht gelogen habe, so daß er
das Zwecklose und Kleinliche des Herauslügens
bald fühlte und zu stolz wurde dazu. Wenn er
dagegen nur die leiseste Neigung verrieth, sich
irgend Eigenschaften beizulegen, die er nicht besaß,
oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu

Handhabe, um ihr donnerndes: Du ſollſt nicht
lügen! dem kleinen erſtaunten Erfindungsgenie
in die Ohren zu ſchreien. Wenn Fritzchen eine
ſolche derbe Lüge vorbrachte, ſo ſagte Frau Regel
einfach, indem ſie ihn groß anſah: »Was ſoll
denn das heißen, Du Affe? Warum lügſt Du
ſolche Dummheiten? Glaubſt Du die großen
Leute zum Narren halten zu können? Sei Du
froh, wenn Dich Niemand anlügt und laß der¬
gleichen Späße!« Wenn er eine Nothlüge vor¬
brachte, um eine begangene Sünde zu vertuſchen,
zeigte ſie ihm mit ernſten aber liebevollen Wor¬
ten, daß die Sache deswegen nicht ungeſchehen
ſei und wußte ihm klar zu machen, daß er ſich
beſſer befinde, wenn er offen und ehrlich einen
begangenen Fehler eingeſtehe; aber ſie bauete
keinen neuen Strafproceß auf die Lüge, ſondern
behandelte die Sache ganz abgeſehen davon, ob
er gelogen oder nicht gelogen habe, ſo daß er
das Zweckloſe und Kleinliche des Herauslügens
bald fühlte und zu ſtolz wurde dazu. Wenn er
dagegen nur die leiſeſte Neigung verrieth, ſich
irgend Eigenſchaften beizulegen, die er nicht beſaß,
oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu

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[133/0145] Handhabe, um ihr donnerndes: Du ſollſt nicht lügen! dem kleinen erſtaunten Erfindungsgenie in die Ohren zu ſchreien. Wenn Fritzchen eine ſolche derbe Lüge vorbrachte, ſo ſagte Frau Regel einfach, indem ſie ihn groß anſah: »Was ſoll denn das heißen, Du Affe? Warum lügſt Du ſolche Dummheiten? Glaubſt Du die großen Leute zum Narren halten zu können? Sei Du froh, wenn Dich Niemand anlügt und laß der¬ gleichen Späße!« Wenn er eine Nothlüge vor¬ brachte, um eine begangene Sünde zu vertuſchen, zeigte ſie ihm mit ernſten aber liebevollen Wor¬ ten, daß die Sache deswegen nicht ungeſchehen ſei und wußte ihm klar zu machen, daß er ſich beſſer befinde, wenn er offen und ehrlich einen begangenen Fehler eingeſtehe; aber ſie bauete keinen neuen Strafproceß auf die Lüge, ſondern behandelte die Sache ganz abgeſehen davon, ob er gelogen oder nicht gelogen habe, ſo daß er das Zweckloſe und Kleinliche des Herauslügens bald fühlte und zu ſtolz wurde dazu. Wenn er dagegen nur die leiſeſte Neigung verrieth, ſich irgend Eigenſchaften beizulegen, die er nicht beſaß, oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/145>, abgerufen am 12.12.2024.