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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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er gesprungen und mich unfehlbar zerrissen haben.
Aber ich stand und stand so zwölf lange Stun¬
den, ohne ein Auge von ihm zu verwenden und
ohne daß er eines von mir verwandte. Er
legte sich gemächlich nieder und betrachtete mich.
Die Sonne stieg höher, aber während die furcht¬
barste Hitze mich zu quälen anfing, verging die
Zeit so langsam, wie die Ewigkeit der Hölle.
Weiß Gott, was mir Alles durch den Kopf
ging; ich verwünschte die Lydia, deren bloßes
Andenken mich abermals in dies Unheil gebracht,
da ich darüber meine Waffe vergessen hatte.
Hundertmal war ich versucht, allem ein Ende zu
machen und auf das wilde Thier loszuspringen
mit bloßen Händen; allein die Liebe zum Leben
behielt die Oberhand und ich stand und stand
wie das versteinerte Weib des Loth, oder wie
der Zeiger einer Sonnenuhr; denn mein Schat¬
ten ging mit den Stunden um mich herum,
wurde ganz kurz und begann schon wieder sich
zu verlängern. Das war die bitterste Schmol¬
lerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir
vor und gelobte, wenn ich dieser Gefahr ent¬
ränne, so wolle ich umgänglich und freundlich

er geſprungen und mich unfehlbar zerriſſen haben.
Aber ich ſtand und ſtand ſo zwölf lange Stun¬
den, ohne ein Auge von ihm zu verwenden und
ohne daß er eines von mir verwandte. Er
legte ſich gemächlich nieder und betrachtete mich.
Die Sonne ſtieg höher, aber während die furcht¬
barſte Hitze mich zu quälen anfing, verging die
Zeit ſo langſam, wie die Ewigkeit der Hölle.
Weiß Gott, was mir Alles durch den Kopf
ging; ich verwünſchte die Lydia, deren bloßes
Andenken mich abermals in dies Unheil gebracht,
da ich darüber meine Waffe vergeſſen hatte.
Hundertmal war ich verſucht, allem ein Ende zu
machen und auf das wilde Thier loszuſpringen
mit bloßen Händen; allein die Liebe zum Leben
behielt die Oberhand und ich ſtand und ſtand
wie das verſteinerte Weib des Loth, oder wie
der Zeiger einer Sonnenuhr; denn mein Schat¬
ten ging mit den Stunden um mich herum,
wurde ganz kurz und begann ſchon wieder ſich
zu verlängern. Das war die bitterſte Schmol¬
lerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir
vor und gelobte, wenn ich dieſer Gefahr ent¬
ränne, ſo wolle ich umgänglich und freundlich

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[107/0119] er geſprungen und mich unfehlbar zerriſſen haben. Aber ich ſtand und ſtand ſo zwölf lange Stun¬ den, ohne ein Auge von ihm zu verwenden und ohne daß er eines von mir verwandte. Er legte ſich gemächlich nieder und betrachtete mich. Die Sonne ſtieg höher, aber während die furcht¬ barſte Hitze mich zu quälen anfing, verging die Zeit ſo langſam, wie die Ewigkeit der Hölle. Weiß Gott, was mir Alles durch den Kopf ging; ich verwünſchte die Lydia, deren bloßes Andenken mich abermals in dies Unheil gebracht, da ich darüber meine Waffe vergeſſen hatte. Hundertmal war ich verſucht, allem ein Ende zu machen und auf das wilde Thier loszuſpringen mit bloßen Händen; allein die Liebe zum Leben behielt die Oberhand und ich ſtand und ſtand wie das verſteinerte Weib des Loth, oder wie der Zeiger einer Sonnenuhr; denn mein Schat¬ ten ging mit den Stunden um mich herum, wurde ganz kurz und begann ſchon wieder ſich zu verlängern. Das war die bitterſte Schmol¬ lerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir vor und gelobte, wenn ich dieſer Gefahr ent¬ ränne, ſo wolle ich umgänglich und freundlich

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/119>, abgerufen am 12.12.2024.