terst das fließende klare Wässerlein. Der An¬ blick ließ eine verjährte Sehnsucht in mir auf¬ steigen und ich vergaß, warum ich hier herum¬ strich. Ich wünschte, in den Oleander hinabzu¬ steigen und aus dem Bach zu trinken, und in diesen zerstreuten Gedanken legte ich mein Gewehr auf den Boden und kletterte eiligst in die Schlucht hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem Bache trank, mein Gesicht benetzte und dabei an die schöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo sie wohl sein möchte, wo sie jetzt herumgehe und wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da hörte ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll ausstoßen, daß der Boden zitterte. Wie besessen sprang ich auf und schwang mich den Abhang hinauf, blieb aber wie angenagelt oben stehen, als ich sah, daß das große Thier, kaum zehn Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr an¬ gekommen war. Und wie ich da stand, so blieb ich auch stehen, die Augen auf die Bestie ge¬ heftet. Denn als er mich erblickte kauerte er zum Sprunge nieder, gerade über meiner Dop¬ pelbüchse, daß sie quer unter seinem Bauche lag, und wenn ich mich nur gerührt hätte, so würde
terſt das fließende klare Wäſſerlein. Der An¬ blick ließ eine verjährte Sehnſucht in mir auf¬ ſteigen und ich vergaß, warum ich hier herum¬ ſtrich. Ich wünſchte, in den Oleander hinabzu¬ ſteigen und aus dem Bach zu trinken, und in dieſen zerſtreuten Gedanken legte ich mein Gewehr auf den Boden und kletterte eiligſt in die Schlucht hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem Bache trank, mein Geſicht benetzte und dabei an die ſchöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo ſie wohl ſein möchte, wo ſie jetzt herumgehe und wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da hörte ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll ausſtoßen, daß der Boden zitterte. Wie beſeſſen ſprang ich auf und ſchwang mich den Abhang hinauf, blieb aber wie angenagelt oben ſtehen, als ich ſah, daß das große Thier, kaum zehn Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr an¬ gekommen war. Und wie ich da ſtand, ſo blieb ich auch ſtehen, die Augen auf die Beſtie ge¬ heftet. Denn als er mich erblickte kauerte er zum Sprunge nieder, gerade über meiner Dop¬ pelbüchſe, daß ſie quer unter ſeinem Bauche lag, und wenn ich mich nur gerührt hätte, ſo würde
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0118"n="106"/>
terſt das fließende klare Wäſſerlein. Der An¬<lb/>
blick ließ eine verjährte Sehnſucht in mir auf¬<lb/>ſteigen und ich vergaß, warum ich hier herum¬<lb/>ſtrich. Ich wünſchte, in den Oleander hinabzu¬<lb/>ſteigen und aus dem Bach zu trinken, und in<lb/>
dieſen zerſtreuten Gedanken legte ich mein Gewehr<lb/>
auf den Boden und kletterte eiligſt in die Schlucht<lb/>
hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem<lb/>
Bache trank, mein Geſicht benetzte und dabei an<lb/>
die ſchöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo ſie<lb/>
wohl ſein möchte, wo ſie jetzt herumgehe und<lb/>
wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da hörte<lb/>
ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll<lb/>
ausſtoßen, daß der Boden zitterte. Wie beſeſſen<lb/>ſprang ich auf und ſchwang mich den Abhang<lb/>
hinauf, blieb aber wie angenagelt oben ſtehen,<lb/>
als ich ſah, daß das große Thier, kaum zehn<lb/>
Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr an¬<lb/>
gekommen war. Und wie ich da ſtand, ſo blieb<lb/>
ich auch ſtehen, die Augen auf die Beſtie ge¬<lb/>
heftet. Denn als er mich erblickte kauerte er<lb/>
zum Sprunge nieder, gerade über meiner Dop¬<lb/>
pelbüchſe, daß ſie quer unter ſeinem Bauche lag,<lb/>
und wenn ich mich nur gerührt hätte, ſo würde<lb/></p></div></body></text></TEI>
[106/0118]
terſt das fließende klare Wäſſerlein. Der An¬
blick ließ eine verjährte Sehnſucht in mir auf¬
ſteigen und ich vergaß, warum ich hier herum¬
ſtrich. Ich wünſchte, in den Oleander hinabzu¬
ſteigen und aus dem Bach zu trinken, und in
dieſen zerſtreuten Gedanken legte ich mein Gewehr
auf den Boden und kletterte eiligſt in die Schlucht
hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem
Bache trank, mein Geſicht benetzte und dabei an
die ſchöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo ſie
wohl ſein möchte, wo ſie jetzt herumgehe und
wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da hörte
ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll
ausſtoßen, daß der Boden zitterte. Wie beſeſſen
ſprang ich auf und ſchwang mich den Abhang
hinauf, blieb aber wie angenagelt oben ſtehen,
als ich ſah, daß das große Thier, kaum zehn
Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr an¬
gekommen war. Und wie ich da ſtand, ſo blieb
ich auch ſtehen, die Augen auf die Beſtie ge¬
heftet. Denn als er mich erblickte kauerte er
zum Sprunge nieder, gerade über meiner Dop¬
pelbüchſe, daß ſie quer unter ſeinem Bauche lag,
und wenn ich mich nur gerührt hätte, ſo würde
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/118>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.