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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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terst das fließende klare Wässerlein. Der An¬
blick ließ eine verjährte Sehnsucht in mir auf¬
steigen und ich vergaß, warum ich hier herum¬
strich. Ich wünschte, in den Oleander hinabzu¬
steigen und aus dem Bach zu trinken, und in
diesen zerstreuten Gedanken legte ich mein Gewehr
auf den Boden und kletterte eiligst in die Schlucht
hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem
Bache trank, mein Gesicht benetzte und dabei an
die schöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo sie
wohl sein möchte, wo sie jetzt herumgehe und
wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da hörte
ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll
ausstoßen, daß der Boden zitterte. Wie besessen
sprang ich auf und schwang mich den Abhang
hinauf, blieb aber wie angenagelt oben stehen,
als ich sah, daß das große Thier, kaum zehn
Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr an¬
gekommen war. Und wie ich da stand, so blieb
ich auch stehen, die Augen auf die Bestie ge¬
heftet. Denn als er mich erblickte kauerte er
zum Sprunge nieder, gerade über meiner Dop¬
pelbüchse, daß sie quer unter seinem Bauche lag,
und wenn ich mich nur gerührt hätte, so würde

terſt das fließende klare Wäſſerlein. Der An¬
blick ließ eine verjährte Sehnſucht in mir auf¬
ſteigen und ich vergaß, warum ich hier herum¬
ſtrich. Ich wünſchte, in den Oleander hinabzu¬
ſteigen und aus dem Bach zu trinken, und in
dieſen zerſtreuten Gedanken legte ich mein Gewehr
auf den Boden und kletterte eiligſt in die Schlucht
hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem
Bache trank, mein Geſicht benetzte und dabei an
die ſchöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo ſie
wohl ſein möchte, wo ſie jetzt herumgehe und
wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da hörte
ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll
ausſtoßen, daß der Boden zitterte. Wie beſeſſen
ſprang ich auf und ſchwang mich den Abhang
hinauf, blieb aber wie angenagelt oben ſtehen,
als ich ſah, daß das große Thier, kaum zehn
Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr an¬
gekommen war. Und wie ich da ſtand, ſo blieb
ich auch ſtehen, die Augen auf die Beſtie ge¬
heftet. Denn als er mich erblickte kauerte er
zum Sprunge nieder, gerade über meiner Dop¬
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und wenn ich mich nur gerührt hätte, ſo würde

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[106/0118] terſt das fließende klare Wäſſerlein. Der An¬ blick ließ eine verjährte Sehnſucht in mir auf¬ ſteigen und ich vergaß, warum ich hier herum¬ ſtrich. Ich wünſchte, in den Oleander hinabzu¬ ſteigen und aus dem Bach zu trinken, und in dieſen zerſtreuten Gedanken legte ich mein Gewehr auf den Boden und kletterte eiligſt in die Schlucht hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem Bache trank, mein Geſicht benetzte und dabei an die ſchöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo ſie wohl ſein möchte, wo ſie jetzt herumgehe und wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da hörte ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll ausſtoßen, daß der Boden zitterte. Wie beſeſſen ſprang ich auf und ſchwang mich den Abhang hinauf, blieb aber wie angenagelt oben ſtehen, als ich ſah, daß das große Thier, kaum zehn Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr an¬ gekommen war. Und wie ich da ſtand, ſo blieb ich auch ſtehen, die Augen auf die Beſtie ge¬ heftet. Denn als er mich erblickte kauerte er zum Sprunge nieder, gerade über meiner Dop¬ pelbüchſe, daß ſie quer unter ſeinem Bauche lag, und wenn ich mich nur gerührt hätte, ſo würde

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/118>, abgerufen am 05.12.2024.