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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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ungewöhnlich großer Löwe in der Gegend erschienen,
dieser, dessen Fell hier liegt, und lichtete den Be¬
duinen ihre Heerden, ohne daß man ihm bei¬
kommen konnte; denn er schien ein durchtriebener
Geselle zu sein und machte täglich große Mär¬
sche kreuz und quer, so daß ich bei meiner Weise,
zu Fuß zu jagen, lange Zeit brauchte, bis ich
ihn nur von Ferne zu Gesicht bekam. Als ich
ihn zwei oder dreimal gesehen, ohne zum Schuß
zu kommen, kannte er mich schon und merkte,
daß ich gegen ihn etwas im Schilde führe. Er
fing gewaltig an zu brüllen und verzog sich, um
mir an einer andern Stelle wieder zu begegnen,
und wir gingen so um einander herum während
mehrerer Tage wie zwei Kater, die sich zausen
wollen, ich lautlos, wie das Grab, und er mit
einem zeitweiligen wilden Geknurre."

"Eines Tages war ich vor Sonnenaufgang
aufgebrochen und nach einer noch nie eingeschla¬
genen Richtung hingegangen; da der Löwe Tags
vorher sich auf der entgegengesetzten Seite herum
getrieben und einen vergeblichen Raubversuch ge¬
macht; da die dortigen Leute mit ihren Thieren
abgezogen waren, so vermuthete ich, der hung¬

ungewöhnlich großer Löwe in der Gegend erſchienen,
dieſer, deſſen Fell hier liegt, und lichtete den Be¬
duinen ihre Heerden, ohne daß man ihm bei¬
kommen konnte; denn er ſchien ein durchtriebener
Geſelle zu ſein und machte täglich große Mär¬
ſche kreuz und quer, ſo daß ich bei meiner Weiſe,
zu Fuß zu jagen, lange Zeit brauchte, bis ich
ihn nur von Ferne zu Geſicht bekam. Als ich
ihn zwei oder dreimal geſehen, ohne zum Schuß
zu kommen, kannte er mich ſchon und merkte,
daß ich gegen ihn etwas im Schilde führe. Er
fing gewaltig an zu brüllen und verzog ſich, um
mir an einer andern Stelle wieder zu begegnen,
und wir gingen ſo um einander herum während
mehrerer Tage wie zwei Kater, die ſich zauſen
wollen, ich lautlos, wie das Grab, und er mit
einem zeitweiligen wilden Geknurre.«

»Eines Tages war ich vor Sonnenaufgang
aufgebrochen und nach einer noch nie eingeſchla¬
genen Richtung hingegangen; da der Löwe Tags
vorher ſich auf der entgegengeſetzten Seite herum
getrieben und einen vergeblichen Raubverſuch ge¬
macht; da die dortigen Leute mit ihren Thieren
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[104/0116] ungewöhnlich großer Löwe in der Gegend erſchienen, dieſer, deſſen Fell hier liegt, und lichtete den Be¬ duinen ihre Heerden, ohne daß man ihm bei¬ kommen konnte; denn er ſchien ein durchtriebener Geſelle zu ſein und machte täglich große Mär¬ ſche kreuz und quer, ſo daß ich bei meiner Weiſe, zu Fuß zu jagen, lange Zeit brauchte, bis ich ihn nur von Ferne zu Geſicht bekam. Als ich ihn zwei oder dreimal geſehen, ohne zum Schuß zu kommen, kannte er mich ſchon und merkte, daß ich gegen ihn etwas im Schilde führe. Er fing gewaltig an zu brüllen und verzog ſich, um mir an einer andern Stelle wieder zu begegnen, und wir gingen ſo um einander herum während mehrerer Tage wie zwei Kater, die ſich zauſen wollen, ich lautlos, wie das Grab, und er mit einem zeitweiligen wilden Geknurre.« »Eines Tages war ich vor Sonnenaufgang aufgebrochen und nach einer noch nie eingeſchla¬ genen Richtung hingegangen; da der Löwe Tags vorher ſich auf der entgegengeſetzten Seite herum getrieben und einen vergeblichen Raubverſuch ge¬ macht; da die dortigen Leute mit ihren Thieren abgezogen waren, ſo vermuthete ich, der hung¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/116>, abgerufen am 12.12.2024.