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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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Als sie ungefähr die Hälfte des Weges zurückge¬
legt, kamen sie zu einem Kirchlein, das Bertrade in
früheren Tagen so nebenbei einst gebaut und der
Mutter Gottes gewidmet hatte. Es war einem armen
Meister zu Gefallen geschehen, welchem wegen seiner
mürrischen und unlieblichen Person Niemand etwas
zu thun gab, so daß auch Gebizo, dem Jeder mit
gefälligem und ehrerbietigem Wesen nahen mußte, ihn
nicht leiden mochte und bei allen seinen Werken leer
ausgehen ließ. Heimlich hatte sie das Kirchlein bauen
lassen und der verachtete Meister hatte gleichsam als
Feierabendarbeit zum Dank noch ein gar eigenthüm¬
lich anmuthiges Marienbild sebst gearbeitet und auf
den Altar gestellt.

In dieses Kirchlein begehrte jetzt Bertrade für
einen Augenblick einzutreten, um ihr Gebet zu ver¬
richten, und Gebizo ließ es geschehen; denn er dachte,
sie könnte es wohl brauchen. Sie stieg also vom
Pferde und ging, indessen der Mann draußen harrte,
hinein, kniete vor dem Altare nieder und empfahl sich
in den Schutz der Jungfrau Maria. Da fiel sie in
einen tiefen Schlaf; die Jungfrau sprang vom Altar
herunter, nahm Gestalt und Kleidung der Schlafen¬
den an, trat aus der Thüre frischen Muthes und
bestieg das Pferd, worauf sie an der Seite des Gra¬
fen und an Bertradens Statt den Weg fortsetzte.

Als ſie ungefähr die Hälfte des Weges zurückge¬
legt, kamen ſie zu einem Kirchlein, das Bertrade in
früheren Tagen ſo nebenbei einſt gebaut und der
Mutter Gottes gewidmet hatte. Es war einem armen
Meiſter zu Gefallen geſchehen, welchem wegen ſeiner
mürriſchen und unlieblichen Perſon Niemand etwas
zu thun gab, ſo daß auch Gebizo, dem Jeder mit
gefälligem und ehrerbietigem Weſen nahen mußte, ihn
nicht leiden mochte und bei allen ſeinen Werken leer
ausgehen ließ. Heimlich hatte ſie das Kirchlein bauen
laſſen und der verachtete Meiſter hatte gleichſam als
Feierabendarbeit zum Dank noch ein gar eigenthüm¬
lich anmuthiges Marienbild ſebſt gearbeitet und auf
den Altar geſtellt.

In dieſes Kirchlein begehrte jetzt Bertrade für
einen Augenblick einzutreten, um ihr Gebet zu ver¬
richten, und Gebizo ließ es geſchehen; denn er dachte,
ſie könnte es wohl brauchen. Sie ſtieg alſo vom
Pferde und ging, indeſſen der Mann draußen harrte,
hinein, kniete vor dem Altare nieder und empfahl ſich
in den Schutz der Jungfrau Maria. Da fiel ſie in
einen tiefen Schlaf; die Jungfrau ſprang vom Altar
herunter, nahm Geſtalt und Kleidung der Schlafen¬
den an, trat aus der Thüre friſchen Muthes und
beſtieg das Pferd, worauf ſie an der Seite des Gra¬
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[37/0051] Als ſie ungefähr die Hälfte des Weges zurückge¬ legt, kamen ſie zu einem Kirchlein, das Bertrade in früheren Tagen ſo nebenbei einſt gebaut und der Mutter Gottes gewidmet hatte. Es war einem armen Meiſter zu Gefallen geſchehen, welchem wegen ſeiner mürriſchen und unlieblichen Perſon Niemand etwas zu thun gab, ſo daß auch Gebizo, dem Jeder mit gefälligem und ehrerbietigem Weſen nahen mußte, ihn nicht leiden mochte und bei allen ſeinen Werken leer ausgehen ließ. Heimlich hatte ſie das Kirchlein bauen laſſen und der verachtete Meiſter hatte gleichſam als Feierabendarbeit zum Dank noch ein gar eigenthüm¬ lich anmuthiges Marienbild ſebſt gearbeitet und auf den Altar geſtellt. In dieſes Kirchlein begehrte jetzt Bertrade für einen Augenblick einzutreten, um ihr Gebet zu ver¬ richten, und Gebizo ließ es geſchehen; denn er dachte, ſie könnte es wohl brauchen. Sie ſtieg alſo vom Pferde und ging, indeſſen der Mann draußen harrte, hinein, kniete vor dem Altare nieder und empfahl ſich in den Schutz der Jungfrau Maria. Da fiel ſie in einen tiefen Schlaf; die Jungfrau ſprang vom Altar herunter, nahm Geſtalt und Kleidung der Schlafen¬ den an, trat aus der Thüre friſchen Muthes und beſtieg das Pferd, worauf ſie an der Seite des Gra¬ fen und an Bertradens Statt den Weg fortſetzte.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/51>, abgerufen am 24.11.2024.