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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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Mittlerweile befand sich Eugenia doch nicht wohl
und zufrieden; ihre geschulten Diener mußten Him¬
mel, Erde und Hölle durchphilosophiren, um plötzlich
unterbrochen zu werden und stundenweit mit ihr im
Feld herumzulaufen, ohne eines Wortes gewürdigt
zu sein. Eines Morgens verlangte sie auf ein Land¬
gut hinauszufahren; sie lenkte selbst den Wagen und
war lieblicher Laune; denn es war ein klarer
Frühlingstag und die Luft mit Balsamdüften erfüllt.
Die Hyazinthen freuten sich der Fröhlichkeit, und so
fuhren sie durch eine ländliche Vorstadt, wo es den
Christen erlaubt war, ihren Gottesdienst zu halten. Sie
feierten eben den Sonntag; aus der Kirche eines
Mönchsklosters ertönte ein frommer Gesang, Eugenia
hielt die Pferde an, um zu hören, und vernahm die
Worte des Psalmes: "Wie eine Hindin nach den
Wasserquellen, so lechzet meine Seele, o Gott! nach
dir! Meine Seele dürstet nach dem lebendigen Gott!"

Bei dem Klange dieser Worte, aus frommen de¬
müthigen Kehlen gesungen, vereinfachte sich endlich
ihr künstliches Wesen, ihr Herz ward getroffen und
schien zu wissen, was es wolle, und langsam, ohne
zu sprechen, fuhr sie weiter nach dem Landgute. Dort
zog sie ins geheim männliche Kleider an, winkte die
Hyazinthen zu sich und verließ das Haus mit ihnen,
ohne von dem Gesinde gesehen zu werden. Und sie

Mittlerweile befand ſich Eugenia doch nicht wohl
und zufrieden; ihre geſchulten Diener mußten Him¬
mel, Erde und Hölle durchphiloſophiren, um plötzlich
unterbrochen zu werden und ſtundenweit mit ihr im
Feld herumzulaufen, ohne eines Wortes gewürdigt
zu ſein. Eines Morgens verlangte ſie auf ein Land¬
gut hinauszufahren; ſie lenkte ſelbſt den Wagen und
war lieblicher Laune; denn es war ein klarer
Frühlingstag und die Luft mit Balſamdüften erfüllt.
Die Hyazinthen freuten ſich der Fröhlichkeit, und ſo
fuhren ſie durch eine ländliche Vorſtadt, wo es den
Chriſten erlaubt war, ihren Gottesdienſt zu halten. Sie
feierten eben den Sonntag; aus der Kirche eines
Mönchskloſters ertönte ein frommer Geſang, Eugenia
hielt die Pferde an, um zu hören, und vernahm die
Worte des Pſalmes: „Wie eine Hindin nach den
Waſſerquellen, ſo lechzet meine Seele, o Gott! nach
dir! Meine Seele dürſtet nach dem lebendigen Gott!“

Bei dem Klange dieſer Worte, aus frommen de¬
müthigen Kehlen geſungen, vereinfachte ſich endlich
ihr künſtliches Weſen, ihr Herz ward getroffen und
ſchien zu wiſſen, was es wolle, und langſam, ohne
zu ſprechen, fuhr ſie weiter nach dem Landgute. Dort
zog ſie ins geheim männliche Kleider an, winkte die
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ohne von dem Geſinde geſehen zu werden. Und ſie

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[10/0024] Mittlerweile befand ſich Eugenia doch nicht wohl und zufrieden; ihre geſchulten Diener mußten Him¬ mel, Erde und Hölle durchphiloſophiren, um plötzlich unterbrochen zu werden und ſtundenweit mit ihr im Feld herumzulaufen, ohne eines Wortes gewürdigt zu ſein. Eines Morgens verlangte ſie auf ein Land¬ gut hinauszufahren; ſie lenkte ſelbſt den Wagen und war lieblicher Laune; denn es war ein klarer Frühlingstag und die Luft mit Balſamdüften erfüllt. Die Hyazinthen freuten ſich der Fröhlichkeit, und ſo fuhren ſie durch eine ländliche Vorſtadt, wo es den Chriſten erlaubt war, ihren Gottesdienſt zu halten. Sie feierten eben den Sonntag; aus der Kirche eines Mönchskloſters ertönte ein frommer Geſang, Eugenia hielt die Pferde an, um zu hören, und vernahm die Worte des Pſalmes: „Wie eine Hindin nach den Waſſerquellen, ſo lechzet meine Seele, o Gott! nach dir! Meine Seele dürſtet nach dem lebendigen Gott!“ Bei dem Klange dieſer Worte, aus frommen de¬ müthigen Kehlen geſungen, vereinfachte ſich endlich ihr künſtliches Weſen, ihr Herz ward getroffen und ſchien zu wiſſen, was es wolle, und langſam, ohne zu ſprechen, fuhr ſie weiter nach dem Landgute. Dort zog ſie ins geheim männliche Kleider an, winkte die Hyazinthen zu ſich und verließ das Haus mit ihnen, ohne von dem Geſinde geſehen zu werden. Und ſie

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/24>, abgerufen am 23.11.2024.