Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.mühungen um ihre Tugend mit unvermindertem Eifer Jole nickte gegen Morgen immer häufiger ein; end¬ "Nicht doch," sagte sie, indem sie die Augen plötz¬ mühungen um ihre Tugend mit unvermindertem Eifer Jole nickte gegen Morgen immer häufiger ein; end¬ „Nicht doch,“ ſagte ſie, indem ſie die Augen plötz¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0121" n="107"/> mühungen um ihre Tugend mit unvermindertem Eifer<lb/> fort. Er mußte fortwährend dazu ſtehen, wenn er<lb/> nicht zu einem Gebete niederkniete. Jole dagegen<lb/> machte es ſich bequem; ſie legte ſich mit dem Ober¬<lb/> leib auf den Teppich zurück, ſchlang die Arme um<lb/> den Kopf und betrachtete aus halb geſchloſſenen<lb/> Augen unverwandt den Mönch, der vor ihr ſtand<lb/> und predigte. Einigemal ſchloß ſie die Augen, wie<lb/> vom Schlummer beſchlichen, und ſobald Vitalis das<lb/> gewahrte, ſtieß er ſie mit dem Fuße an, um ſie<lb/> zu wecken. Aber dieſe mürriſche Maßregel fiel den¬<lb/> noch jedesmal milder aus, als er beabſichtigte: denn<lb/> ſobald der Fuß ſich der ſchlanken Seite des Mädchens<lb/> näherte, mäßigte er von ſelbſt ſeine Schwere und be¬<lb/> rührte nur ſanft die zarten Rippen, und deſſen un¬<lb/> geachtet ſtrömte dann eine gar ſeltſamliche Empfindung<lb/> den ganzen langen Mönch hinauf, eine Empfindung,<lb/> die ſich bei allen den vielen ſchönen Sünderinnen, mit<lb/> denen er bisher verkehrt, im Entfernteſten nie ein¬<lb/> geſtellt hatte.</p><lb/> <p>Jole nickte gegen Morgen immer häufiger ein; end¬<lb/> lich rief Vitalis unwillig: „Kind, du hörſt nicht, du<lb/> biſt nicht zu erwecken, du verharrſt in Trägheit!“</p><lb/> <p>„Nicht doch,“ ſagte ſie, indem ſie die Augen plötz¬<lb/> lich aufſchlug und ein ſüßes Lächeln über ihr Geſicht<lb/> flog, gleichſam als wenn der nahende Tag ſchon dar¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [107/0121]
mühungen um ihre Tugend mit unvermindertem Eifer
fort. Er mußte fortwährend dazu ſtehen, wenn er
nicht zu einem Gebete niederkniete. Jole dagegen
machte es ſich bequem; ſie legte ſich mit dem Ober¬
leib auf den Teppich zurück, ſchlang die Arme um
den Kopf und betrachtete aus halb geſchloſſenen
Augen unverwandt den Mönch, der vor ihr ſtand
und predigte. Einigemal ſchloß ſie die Augen, wie
vom Schlummer beſchlichen, und ſobald Vitalis das
gewahrte, ſtieß er ſie mit dem Fuße an, um ſie
zu wecken. Aber dieſe mürriſche Maßregel fiel den¬
noch jedesmal milder aus, als er beabſichtigte: denn
ſobald der Fuß ſich der ſchlanken Seite des Mädchens
näherte, mäßigte er von ſelbſt ſeine Schwere und be¬
rührte nur ſanft die zarten Rippen, und deſſen un¬
geachtet ſtrömte dann eine gar ſeltſamliche Empfindung
den ganzen langen Mönch hinauf, eine Empfindung,
die ſich bei allen den vielen ſchönen Sünderinnen, mit
denen er bisher verkehrt, im Entfernteſten nie ein¬
geſtellt hatte.
Jole nickte gegen Morgen immer häufiger ein; end¬
lich rief Vitalis unwillig: „Kind, du hörſt nicht, du
biſt nicht zu erwecken, du verharrſt in Trägheit!“
„Nicht doch,“ ſagte ſie, indem ſie die Augen plötz¬
lich aufſchlug und ein ſüßes Lächeln über ihr Geſicht
flog, gleichſam als wenn der nahende Tag ſchon dar¬
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