die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen über den sogenannten freien Willen abschloß. Denn obgleich er schon hundertmal diesen Ausdruck ge¬ hört und gelesen, auch genügsam wilde Philoso¬ phie und Theologie, wie sie in seinem Garten wuchs, getrieben hatte, so war es ihm doch noch nie eingefallen, darüber nachzudenken, oder hielt höchstens den "freien Willen" für eine Art müßi¬ gen Lückenbüßers für zusammengesetzte Dinge, woran er nicht ganz unrecht that, nur daß er dazu nicht reif und befähigt war, ehe er die frag¬ liche Sache näher kannte und verstand. Es giebt eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen, sondern auch aufzubauen wissen müsse, welche von gemüthlichen und oberflächlichen Leuten aller¬ wege angebracht wird, wo ihnen eine sichtende Thätigkeit oder Disciplin unbequem in den Weg tritt. Diese Redensart ist da am Platze, wo man abspricht oder negirt, was man nicht durch¬ lebt und durchdacht hat, sonst aber ist sie überall ein Unsinn; denn man reißt nicht immer nieder, um wieder aufzubauen; im Gegentheil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um einen freien Raum
die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen uͤber den ſogenannten freien Willen abſchloß. Denn obgleich er ſchon hundertmal dieſen Ausdruck ge¬ hoͤrt und geleſen, auch genuͤgſam wilde Philoſo¬ phie und Theologie, wie ſie in ſeinem Garten wuchs, getrieben hatte, ſo war es ihm doch noch nie eingefallen, daruͤber nachzudenken, oder hielt hoͤchſtens den »freien Willen« fuͤr eine Art muͤßi¬ gen Luͤckenbuͤßers fuͤr zuſammengeſetzte Dinge, woran er nicht ganz unrecht that, nur daß er dazu nicht reif und befaͤhigt war, ehe er die frag¬ liche Sache naͤher kannte und verſtand. Es giebt eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen, ſondern auch aufzubauen wiſſen muͤſſe, welche von gemuͤthlichen und oberflaͤchlichen Leuten aller¬ wege angebracht wird, wo ihnen eine ſichtende Thaͤtigkeit oder Disciplin unbequem in den Weg tritt. Dieſe Redensart iſt da am Platze, wo man abſpricht oder negirt, was man nicht durch¬ lebt und durchdacht hat, ſonſt aber iſt ſie uͤberall ein Unſinn; denn man reißt nicht immer nieder, um wieder aufzubauen; im Gegentheil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um einen freien Raum
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die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen uͤber
den ſogenannten freien Willen abſchloß. Denn
obgleich er ſchon hundertmal dieſen Ausdruck ge¬
hoͤrt und geleſen, auch genuͤgſam wilde Philoſo¬
phie und Theologie, wie ſie in ſeinem Garten
wuchs, getrieben hatte, ſo war es ihm doch noch
nie eingefallen, daruͤber nachzudenken, oder hielt
hoͤchſtens den »freien Willen« fuͤr eine Art muͤßi¬
gen Luͤckenbuͤßers fuͤr zuſammengeſetzte Dinge,
woran er nicht ganz unrecht that, nur daß er
dazu nicht reif und befaͤhigt war, ehe er die frag¬
liche Sache naͤher kannte und verſtand. Es giebt
eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen,
ſondern auch aufzubauen wiſſen muͤſſe, welche
von gemuͤthlichen und oberflaͤchlichen Leuten aller¬
wege angebracht wird, wo ihnen eine ſichtende
Thaͤtigkeit oder Disciplin unbequem in den Weg
tritt. Dieſe Redensart iſt da am Platze, wo
man abſpricht oder negirt, was man nicht durch¬
lebt und durchdacht hat, ſonſt aber iſt ſie uͤberall
ein Unſinn; denn man reißt nicht immer nieder,
um wieder aufzubauen; im Gegentheil, man reißt
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/78>, abgerufen am 25.11.2024.
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