Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Erfahrung, daß unbedingte Tugend und
Güte irgendwo sind, ist ja die schönste, die man
machen kann, und selbst die Seele des Lasterhaf¬
ten reibt sich vor Vergnügen ihre unsichtbaren
dunklen Hände, wenn sie sich überzeugt, daß An¬
dere für sie gut und tugendhaft sind.

Mit dem praktischen Sinne und dem raschen
Aneignungsvermögen des Autodidakten fand sich
Heinrich zurecht in der reichen Welt, die sich
ihm aufthat; mit der plastischen Anschauungs¬
weise, welche er als Künstler mitbrachte, wußte
er die verschiedenen Momente des organischen
Wesens lebendig aufzufassen, auseinander zu hal¬
ten, wieder zu verbinden und sich deutlich einzu¬
prägen, und so die Kunde von dem, woraus er
eigentlich bestand, wodurch er athmete und lebte,
in dem edelsten Theile desselben selbst aufzube¬
wahren und mit sich herumzutragen, ein Vor¬
gang, dessen Natürlichkeit jetzt endlich wohl so
einleuchtend werden dürfte, daß er zum Gegen¬
stande allgemeinster Erziehung gemacht wird. Mit
dieser Kenntniß, auf welche der Mensch das erste
Anrecht hat, müßten alle Volksschulen abschließen;

4 *

Die Erfahrung, daß unbedingte Tugend und
Guͤte irgendwo ſind, iſt ja die ſchoͤnſte, die man
machen kann, und ſelbſt die Seele des Laſterhaf¬
ten reibt ſich vor Vergnuͤgen ihre unſichtbaren
dunklen Haͤnde, wenn ſie ſich uͤberzeugt, daß An¬
dere fuͤr ſie gut und tugendhaft ſind.

Mit dem praktiſchen Sinne und dem raſchen
Aneignungsvermoͤgen des Autodidakten fand ſich
Heinrich zurecht in der reichen Welt, die ſich
ihm aufthat; mit der plaſtiſchen Anſchauungs¬
weiſe, welche er als Kuͤnſtler mitbrachte, wußte
er die verſchiedenen Momente des organiſchen
Weſens lebendig aufzufaſſen, auseinander zu hal¬
ten, wieder zu verbinden und ſich deutlich einzu¬
praͤgen, und ſo die Kunde von dem, woraus er
eigentlich beſtand, wodurch er athmete und lebte,
in dem edelſten Theile deſſelben ſelbſt aufzube¬
wahren und mit ſich herumzutragen, ein Vor¬
gang, deſſen Natuͤrlichkeit jetzt endlich wohl ſo
einleuchtend werden duͤrfte, daß er zum Gegen¬
ſtande allgemeinſter Erziehung gemacht wird. Mit
dieſer Kenntniß, auf welche der Menſch das erſte
Anrecht hat, muͤßten alle Volksſchulen abſchließen;

4 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0061" n="51"/>
Die Erfahrung, daß unbedingte Tugend und<lb/>
Gu&#x0364;te irgendwo &#x017F;ind, i&#x017F;t ja die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te, die man<lb/>
machen kann, und &#x017F;elb&#x017F;t die Seele des La&#x017F;terhaf¬<lb/>
ten reibt &#x017F;ich vor Vergnu&#x0364;gen ihre un&#x017F;ichtbaren<lb/>
dunklen Ha&#x0364;nde, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich u&#x0364;berzeugt, daß An¬<lb/>
dere fu&#x0364;r &#x017F;ie gut und tugendhaft &#x017F;ind.</p><lb/>
        <p>Mit dem prakti&#x017F;chen Sinne und dem ra&#x017F;chen<lb/>
Aneignungsvermo&#x0364;gen des Autodidakten fand &#x017F;ich<lb/>
Heinrich zurecht in der reichen Welt, die &#x017F;ich<lb/>
ihm aufthat; mit der pla&#x017F;ti&#x017F;chen An&#x017F;chauungs¬<lb/>
wei&#x017F;e, welche er als Ku&#x0364;n&#x017F;tler mitbrachte, wußte<lb/>
er die ver&#x017F;chiedenen Momente des organi&#x017F;chen<lb/>
We&#x017F;ens lebendig aufzufa&#x017F;&#x017F;en, auseinander zu hal¬<lb/>
ten, wieder zu verbinden und &#x017F;ich deutlich einzu¬<lb/>
pra&#x0364;gen, und &#x017F;o die Kunde von dem, woraus er<lb/>
eigentlich be&#x017F;tand, wodurch er athmete und lebte,<lb/>
in dem edel&#x017F;ten Theile de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;elb&#x017F;t aufzube¬<lb/>
wahren und mit &#x017F;ich herumzutragen, ein Vor¬<lb/>
gang, de&#x017F;&#x017F;en Natu&#x0364;rlichkeit jetzt endlich wohl &#x017F;o<lb/>
einleuchtend werden du&#x0364;rfte, daß er zum Gegen¬<lb/>
&#x017F;tande allgemein&#x017F;ter Erziehung gemacht wird. Mit<lb/>
die&#x017F;er Kenntniß, auf welche der Men&#x017F;ch das er&#x017F;te<lb/>
Anrecht hat, mu&#x0364;ßten alle Volks&#x017F;chulen ab&#x017F;chließen;<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">4 *<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0061] Die Erfahrung, daß unbedingte Tugend und Guͤte irgendwo ſind, iſt ja die ſchoͤnſte, die man machen kann, und ſelbſt die Seele des Laſterhaf¬ ten reibt ſich vor Vergnuͤgen ihre unſichtbaren dunklen Haͤnde, wenn ſie ſich uͤberzeugt, daß An¬ dere fuͤr ſie gut und tugendhaft ſind. Mit dem praktiſchen Sinne und dem raſchen Aneignungsvermoͤgen des Autodidakten fand ſich Heinrich zurecht in der reichen Welt, die ſich ihm aufthat; mit der plaſtiſchen Anſchauungs¬ weiſe, welche er als Kuͤnſtler mitbrachte, wußte er die verſchiedenen Momente des organiſchen Weſens lebendig aufzufaſſen, auseinander zu hal¬ ten, wieder zu verbinden und ſich deutlich einzu¬ praͤgen, und ſo die Kunde von dem, woraus er eigentlich beſtand, wodurch er athmete und lebte, in dem edelſten Theile deſſelben ſelbſt aufzube¬ wahren und mit ſich herumzutragen, ein Vor¬ gang, deſſen Natuͤrlichkeit jetzt endlich wohl ſo einleuchtend werden duͤrfte, daß er zum Gegen¬ ſtande allgemeinſter Erziehung gemacht wird. Mit dieſer Kenntniß, auf welche der Menſch das erſte Anrecht hat, muͤßten alle Volksſchulen abſchließen; 4 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/61
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/61>, abgerufen am 23.11.2024.