Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Aufforderung zu eigener Belehrung, als eine fest¬
stehende unveränderliche Lehre zu sein, bei Jedem
wieder anders wirkend und sein unmittelbares
Selbsturtheil erweckend. Der gleiche Gegenstand
führte den Einen sofort und vielleicht für immer
zu philosophischem Denken, den Anderen zu um¬
fassender Naturbetrachtung, den Dritten zur be¬
sonderen Erforschung des menschlichen Körpers oder
zur Heilkunst; der Vierte endlich, durch die Dar¬
stellung des Nahrungsprocesses, verfiel gar auf
nationalökonomische Studien und wurde vielleicht
ein großer Politicus, während der Fünfte, Sechste
und Siebente die gleichen Dinge nur anhörten
und niederschrieben, um sie in einem halben Jahre
gänzlich zu vergessen und später als große Theo¬
logen, Seelenkundige und Sittenlehrer von Flei¬
scheslust, Herzensverstocktheit, Augen- und Ohren¬
dienst zu reden, ohne eine klare Vorstellung von
den betreffenden Organen zu besitzen.

Auf Heinrich, welcher arglos gekommen war,
zu äußerer plastischer Verwendung einige gute
Kenntnisse zu holen, wirkte schon die erste Stunde
so, daß er sowohl seinen Zweck als alle seine

Aufforderung zu eigener Belehrung, als eine feſt¬
ſtehende unveraͤnderliche Lehre zu ſein, bei Jedem
wieder anders wirkend und ſein unmittelbares
Selbſturtheil erweckend. Der gleiche Gegenſtand
fuͤhrte den Einen ſofort und vielleicht fuͤr immer
zu philoſophiſchem Denken, den Anderen zu um¬
faſſender Naturbetrachtung, den Dritten zur be¬
ſonderen Erforſchung des menſchlichen Koͤrpers oder
zur Heilkunſt; der Vierte endlich, durch die Dar¬
ſtellung des Nahrungsproceſſes, verfiel gar auf
nationaloͤkonomiſche Studien und wurde vielleicht
ein großer Politicus, waͤhrend der Fuͤnfte, Sechſte
und Siebente die gleichen Dinge nur anhoͤrten
und niederſchrieben, um ſie in einem halben Jahre
gaͤnzlich zu vergeſſen und ſpaͤter als große Theo¬
logen, Seelenkundige und Sittenlehrer von Flei¬
ſchesluſt, Herzensverſtocktheit, Augen- und Ohren¬
dienſt zu reden, ohne eine klare Vorſtellung von
den betreffenden Organen zu beſitzen.

Auf Heinrich, welcher arglos gekommen war,
zu aͤußerer plaſtiſcher Verwendung einige gute
Kenntniſſe zu holen, wirkte ſchon die erſte Stunde
ſo, daß er ſowohl ſeinen Zweck als alle ſeine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0056" n="46"/>
Aufforderung zu eigener Belehrung, als eine fe&#x017F;<lb/>
&#x017F;tehende unvera&#x0364;nderliche Lehre zu &#x017F;ein, bei Jedem<lb/>
wieder anders wirkend und &#x017F;ein unmittelbares<lb/>
Selb&#x017F;turtheil erweckend. Der gleiche Gegen&#x017F;tand<lb/>
fu&#x0364;hrte den Einen &#x017F;ofort und vielleicht fu&#x0364;r immer<lb/>
zu philo&#x017F;ophi&#x017F;chem Denken, den Anderen zu um¬<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ender Naturbetrachtung, den Dritten zur be¬<lb/>
&#x017F;onderen Erfor&#x017F;chung des <choice><sic>mench&#x017F;lichen</sic><corr>men&#x017F;chlichen</corr></choice> Ko&#x0364;rpers oder<lb/>
zur Heilkun&#x017F;t; der Vierte endlich, durch die Dar¬<lb/>
&#x017F;tellung des Nahrungsproce&#x017F;&#x017F;es, verfiel gar auf<lb/>
nationalo&#x0364;konomi&#x017F;che Studien und wurde vielleicht<lb/>
ein großer Politicus, wa&#x0364;hrend der Fu&#x0364;nfte, Sech&#x017F;te<lb/>
und Siebente die gleichen Dinge nur anho&#x0364;rten<lb/>
und nieder&#x017F;chrieben, um &#x017F;ie in einem halben Jahre<lb/>
ga&#x0364;nzlich zu verge&#x017F;&#x017F;en und &#x017F;pa&#x0364;ter als große Theo¬<lb/>
logen, Seelenkundige und Sittenlehrer von Flei¬<lb/>
&#x017F;cheslu&#x017F;t, Herzensver&#x017F;tocktheit, Augen- und Ohren¬<lb/>
dien&#x017F;t zu reden, ohne eine klare Vor&#x017F;tellung von<lb/>
den betreffenden Organen zu be&#x017F;itzen.</p><lb/>
        <p>Auf Heinrich, welcher arglos gekommen war,<lb/>
zu a&#x0364;ußerer pla&#x017F;ti&#x017F;cher Verwendung einige gute<lb/>
Kenntni&#x017F;&#x017F;e zu holen, wirkte &#x017F;chon die er&#x017F;te Stunde<lb/>
&#x017F;o, daß er &#x017F;owohl &#x017F;einen Zweck als alle &#x017F;eine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0056] Aufforderung zu eigener Belehrung, als eine feſt¬ ſtehende unveraͤnderliche Lehre zu ſein, bei Jedem wieder anders wirkend und ſein unmittelbares Selbſturtheil erweckend. Der gleiche Gegenſtand fuͤhrte den Einen ſofort und vielleicht fuͤr immer zu philoſophiſchem Denken, den Anderen zu um¬ faſſender Naturbetrachtung, den Dritten zur be¬ ſonderen Erforſchung des menſchlichen Koͤrpers oder zur Heilkunſt; der Vierte endlich, durch die Dar¬ ſtellung des Nahrungsproceſſes, verfiel gar auf nationaloͤkonomiſche Studien und wurde vielleicht ein großer Politicus, waͤhrend der Fuͤnfte, Sechſte und Siebente die gleichen Dinge nur anhoͤrten und niederſchrieben, um ſie in einem halben Jahre gaͤnzlich zu vergeſſen und ſpaͤter als große Theo¬ logen, Seelenkundige und Sittenlehrer von Flei¬ ſchesluſt, Herzensverſtocktheit, Augen- und Ohren¬ dienſt zu reden, ohne eine klare Vorſtellung von den betreffenden Organen zu beſitzen. Auf Heinrich, welcher arglos gekommen war, zu aͤußerer plaſtiſcher Verwendung einige gute Kenntniſſe zu holen, wirkte ſchon die erſte Stunde ſo, daß er ſowohl ſeinen Zweck als alle ſeine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/56
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/56>, abgerufen am 23.11.2024.