jener ängstliche Traum aller Autodidakten, welche sich im Mannesalter, ja mit grauen Haaren in die Schulstube versetzt sehen, mitten unter ein Geschlecht muthwilliger Knaben, den alten stren¬ gen Lehrer vor sich, der sie beschämt und um ganze Reihen von blühenden Buben hinunter¬ rücken läßt. Er fürchtete sich, aufgefordert zu wer¬ den, aufzustehen und Rechenschaft zu geben von Allem, was er nicht gelernt habe.
Nun füllte sich aber allmälig der Saal, und voll Verwunderung änderte sich Heinrich's Stim¬ mung wieder, als er die gedrängte Versammlung übersah. Neben einer Menge junger Leute seines Alters, welche höchst selbständig und rücksichtslos ihre Plätze einnahmen und behaupteten, erschienen Viele vorgerückteren Alters, gut oder schlecht ge¬ kleidet, welche schon stiller und bescheidener unter¬ zukommen suchten, und sogar einige alte Herren mit weißem Haar, selbst rühmliche Lehrer in an¬ deren Gebieten, nahmen entlegene Seitenplätze ein, um dort zu sehen, was es noch für sie zu lernen gäbe. So mochten über hundert Zuhörer versammelt sein, welche des Vortragenden harr¬
jener aͤngſtliche Traum aller Autodidakten, welche ſich im Mannesalter, ja mit grauen Haaren in die Schulſtube verſetzt ſehen, mitten unter ein Geſchlecht muthwilliger Knaben, den alten ſtren¬ gen Lehrer vor ſich, der ſie beſchaͤmt und um ganze Reihen von bluͤhenden Buben hinunter¬ ruͤcken laͤßt. Er fuͤrchtete ſich, aufgefordert zu wer¬ den, aufzuſtehen und Rechenſchaft zu geben von Allem, was er nicht gelernt habe.
Nun fuͤllte ſich aber allmaͤlig der Saal, und voll Verwunderung aͤnderte ſich Heinrich's Stim¬ mung wieder, als er die gedraͤngte Verſammlung uͤberſah. Neben einer Menge junger Leute ſeines Alters, welche hoͤchſt ſelbſtaͤndig und ruͤckſichtslos ihre Plaͤtze einnahmen und behaupteten, erſchienen Viele vorgeruͤckteren Alters, gut oder ſchlecht ge¬ kleidet, welche ſchon ſtiller und beſcheidener unter¬ zukommen ſuchten, und ſogar einige alte Herren mit weißem Haar, ſelbſt ruͤhmliche Lehrer in an¬ deren Gebieten, nahmen entlegene Seitenplaͤtze ein, um dort zu ſehen, was es noch fuͤr ſie zu lernen gaͤbe. So mochten uͤber hundert Zuhoͤrer verſammelt ſein, welche des Vortragenden harr¬
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jener aͤngſtliche Traum aller Autodidakten, welche
ſich im Mannesalter, ja mit grauen Haaren in
die Schulſtube verſetzt ſehen, mitten unter ein
Geſchlecht muthwilliger Knaben, den alten ſtren¬
gen Lehrer vor ſich, der ſie beſchaͤmt und um
ganze Reihen von bluͤhenden Buben hinunter¬
ruͤcken laͤßt. Er fuͤrchtete ſich, aufgefordert zu wer¬
den, aufzuſtehen und Rechenſchaft zu geben von
Allem, was er nicht gelernt habe.
Nun fuͤllte ſich aber allmaͤlig der Saal, und
voll Verwunderung aͤnderte ſich Heinrich's Stim¬
mung wieder, als er die gedraͤngte Verſammlung
uͤberſah. Neben einer Menge junger Leute ſeines
Alters, welche hoͤchſt ſelbſtaͤndig und ruͤckſichtslos
ihre Plaͤtze einnahmen und behaupteten, erſchienen
Viele vorgeruͤckteren Alters, gut oder ſchlecht ge¬
kleidet, welche ſchon ſtiller und beſcheidener unter¬
zukommen ſuchten, und ſogar einige alte Herren
mit weißem Haar, ſelbſt ruͤhmliche Lehrer in an¬
deren Gebieten, nahmen entlegene Seitenplaͤtze
ein, um dort zu ſehen, was es noch fuͤr ſie zu
lernen gaͤbe. So mochten uͤber hundert Zuhoͤrer
verſammelt ſein, welche des Vortragenden harr¬
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/54>, abgerufen am 22.11.2024.
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