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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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Nachdem sie lange in Kummer und stummer
Erwartung auf ihren Sohn oder ein Zeichen von
ihm gewartet, wurde sie gerade um die Zeit, als
Heinrich sich im Herbste auf den Heimweg be¬
geben hatte und dann im Hause des Grafen
haften blieb, aus ihrem Hause vertrieben, in
welchem sie achtundzwanzig Jahre gewohnt; denn
nachdem es ruchbar geworden, daß sie jenes Ka¬
pital für ihren Sohn aufgenommen, von wel¬
chem nichts weiter zu hören war, hielt man sie
um dieser Handlung willen für leichtsinnig und
unzuverlässig und kündigte ihr die Summe. Da
sie trotz aller Mühen dieselbe nicht auf's Neue
aufbringen konnte, indem Niemand sich in diesen
Handel einlassen zu dürfen glaubte, mußte sie
endlich den Verkauf des Hauses erdulden und
mit ihrer eingewohnten Habe, von welcher jedes
Stück seit so viel Jahren an selbem Platze un¬
verrückt gestanden, in eine fremde ärmliche Woh¬
nung ziehen, über welchem mühseligen und ver¬
wirrten Geschäft sie fast den Kopf verlor. Den
Rest des Verkaufswerthes legte sie aber nicht
etwa wieder an, um auf's Neue zu sparen und

Nachdem ſie lange in Kummer und ſtummer
Erwartung auf ihren Sohn oder ein Zeichen von
ihm gewartet, wurde ſie gerade um die Zeit, als
Heinrich ſich im Herbſte auf den Heimweg be¬
geben hatte und dann im Hauſe des Grafen
haften blieb, aus ihrem Hauſe vertrieben, in
welchem ſie achtundzwanzig Jahre gewohnt; denn
nachdem es ruchbar geworden, daß ſie jenes Ka¬
pital fuͤr ihren Sohn aufgenommen, von wel¬
chem nichts weiter zu hoͤren war, hielt man ſie
um dieſer Handlung willen fuͤr leichtſinnig und
unzuverlaͤſſig und kuͤndigte ihr die Summe. Da
ſie trotz aller Muͤhen dieſelbe nicht auf's Neue
aufbringen konnte, indem Niemand ſich in dieſen
Handel einlaſſen zu duͤrfen glaubte, mußte ſie
endlich den Verkauf des Hauſes erdulden und
mit ihrer eingewohnten Habe, von welcher jedes
Stuͤck ſeit ſo viel Jahren an ſelbem Platze un¬
verruͤckt geſtanden, in eine fremde aͤrmliche Woh¬
nung ziehen, uͤber welchem muͤhſeligen und ver¬
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[472/0482] Nachdem ſie lange in Kummer und ſtummer Erwartung auf ihren Sohn oder ein Zeichen von ihm gewartet, wurde ſie gerade um die Zeit, als Heinrich ſich im Herbſte auf den Heimweg be¬ geben hatte und dann im Hauſe des Grafen haften blieb, aus ihrem Hauſe vertrieben, in welchem ſie achtundzwanzig Jahre gewohnt; denn nachdem es ruchbar geworden, daß ſie jenes Ka¬ pital fuͤr ihren Sohn aufgenommen, von wel¬ chem nichts weiter zu hoͤren war, hielt man ſie um dieſer Handlung willen fuͤr leichtſinnig und unzuverlaͤſſig und kuͤndigte ihr die Summe. Da ſie trotz aller Muͤhen dieſelbe nicht auf's Neue aufbringen konnte, indem Niemand ſich in dieſen Handel einlaſſen zu duͤrfen glaubte, mußte ſie endlich den Verkauf des Hauſes erdulden und mit ihrer eingewohnten Habe, von welcher jedes Stuͤck ſeit ſo viel Jahren an ſelbem Platze un¬ verruͤckt geſtanden, in eine fremde aͤrmliche Woh¬ nung ziehen, uͤber welchem muͤhſeligen und ver¬ wirrten Geſchaͤft ſie faſt den Kopf verlor. Den Reſt des Verkaufswerthes legte ſie aber nicht etwa wieder an, um auf's Neue zu ſparen und

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/482>, abgerufen am 04.12.2024.