brochen worden und er in dem Hause des Gast¬ freundes gelebt, hatte er erst das Schreiben an sie immer aufgeschoben, weil er dachte, so bald als möglich selbst hinzukommen und mit seiner wohlhergestellten Person Ende gut Alles gut zu spielen. Dann, als er in die Liebeskrankheit ver¬ fiel, vergaß er sie zeitweise ganz, und wenn er an sie dachte, wäre es ihm nicht möglich gewe¬ sen, auch nur eine Zeile zu schreiben, so wenig als etwas Anderes zu beginnen, und am wenig¬ sten hätte er gewußt, in welchem Tone er an die Mutter schreiben sollte, ohne sie zu täuschen, da er selbst nicht wußte, ob er den Tod oder daß Leben im Herzen trage. Er ließ daher die Dinge gehen wie sie gingen, vertraute auf die gute Na¬ tur der Mutter und setzte ihre Ruhe mit seiner Ruhe auf die gleiche Karte. Jetzt aber befiel ihn, der noch vor Kurzem einen so großen Respekt und eine gewisse Furcht vor dem jungen schönen Weibe gehegt, das er liebte, jetzt befiel ihn die¬ ses Gefühl, wie eine Art Scheu, in verdoppeltem Maße vor der alten schwachen, lange nicht ge¬ sehenen Mutter, und es war ihm zu Muthe, wie
brochen worden und er in dem Hauſe des Gaſt¬ freundes gelebt, hatte er erſt das Schreiben an ſie immer aufgeſchoben, weil er dachte, ſo bald als moͤglich ſelbſt hinzukommen und mit ſeiner wohlhergeſtellten Perſon Ende gut Alles gut zu ſpielen. Dann, als er in die Liebeskrankheit ver¬ fiel, vergaß er ſie zeitweiſe ganz, und wenn er an ſie dachte, waͤre es ihm nicht moͤglich gewe¬ ſen, auch nur eine Zeile zu ſchreiben, ſo wenig als etwas Anderes zu beginnen, und am wenig¬ ſten haͤtte er gewußt, in welchem Tone er an die Mutter ſchreiben ſollte, ohne ſie zu taͤuſchen, da er ſelbſt nicht wußte, ob er den Tod oder daß Leben im Herzen trage. Er ließ daher die Dinge gehen wie ſie gingen, vertraute auf die gute Na¬ tur der Mutter und ſetzte ihre Ruhe mit ſeiner Ruhe auf die gleiche Karte. Jetzt aber befiel ihn, der noch vor Kurzem einen ſo großen Reſpekt und eine gewiſſe Furcht vor dem jungen ſchoͤnen Weibe gehegt, das er liebte, jetzt befiel ihn die¬ ſes Gefuͤhl, wie eine Art Scheu, in verdoppeltem Maße vor der alten ſchwachen, lange nicht ge¬ ſehenen Mutter, und es war ihm zu Muthe, wie
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0460"n="450"/>
brochen worden und er in dem Hauſe des Gaſt¬<lb/>
freundes gelebt, hatte er erſt das Schreiben an<lb/>ſie immer aufgeſchoben, weil er dachte, ſo bald<lb/>
als moͤglich ſelbſt hinzukommen und mit ſeiner<lb/>
wohlhergeſtellten Perſon Ende gut Alles gut zu<lb/>ſpielen. Dann, als er in die Liebeskrankheit ver¬<lb/>
fiel, vergaß er ſie zeitweiſe ganz, und wenn er<lb/>
an ſie dachte, waͤre es ihm nicht moͤglich gewe¬<lb/>ſen, auch nur eine Zeile zu ſchreiben, ſo wenig<lb/>
als etwas Anderes zu beginnen, und am wenig¬<lb/>ſten haͤtte er gewußt, in welchem Tone er an<lb/>
die Mutter ſchreiben ſollte, ohne ſie zu taͤuſchen,<lb/>
da er ſelbſt nicht wußte, ob er den Tod oder daß<lb/>
Leben im Herzen trage. Er ließ daher die Dinge<lb/>
gehen wie ſie gingen, vertraute auf die gute Na¬<lb/>
tur der Mutter und ſetzte ihre Ruhe mit ſeiner<lb/>
Ruhe auf die gleiche Karte. Jetzt aber befiel ihn,<lb/>
der noch vor Kurzem einen ſo großen Reſpekt<lb/>
und eine gewiſſe Furcht vor dem jungen ſchoͤnen<lb/>
Weibe gehegt, das er liebte, jetzt befiel ihn die¬<lb/>ſes Gefuͤhl, wie eine Art Scheu, in verdoppeltem<lb/>
Maße vor der alten ſchwachen, lange nicht ge¬<lb/>ſehenen Mutter, und es war ihm zu Muthe, wie<lb/></p></div></body></text></TEI>
[450/0460]
brochen worden und er in dem Hauſe des Gaſt¬
freundes gelebt, hatte er erſt das Schreiben an
ſie immer aufgeſchoben, weil er dachte, ſo bald
als moͤglich ſelbſt hinzukommen und mit ſeiner
wohlhergeſtellten Perſon Ende gut Alles gut zu
ſpielen. Dann, als er in die Liebeskrankheit ver¬
fiel, vergaß er ſie zeitweiſe ganz, und wenn er
an ſie dachte, waͤre es ihm nicht moͤglich gewe¬
ſen, auch nur eine Zeile zu ſchreiben, ſo wenig
als etwas Anderes zu beginnen, und am wenig¬
ſten haͤtte er gewußt, in welchem Tone er an
die Mutter ſchreiben ſollte, ohne ſie zu taͤuſchen,
da er ſelbſt nicht wußte, ob er den Tod oder daß
Leben im Herzen trage. Er ließ daher die Dinge
gehen wie ſie gingen, vertraute auf die gute Na¬
tur der Mutter und ſetzte ihre Ruhe mit ſeiner
Ruhe auf die gleiche Karte. Jetzt aber befiel ihn,
der noch vor Kurzem einen ſo großen Reſpekt
und eine gewiſſe Furcht vor dem jungen ſchoͤnen
Weibe gehegt, das er liebte, jetzt befiel ihn die¬
ſes Gefuͤhl, wie eine Art Scheu, in verdoppeltem
Maße vor der alten ſchwachen, lange nicht ge¬
ſehenen Mutter, und es war ihm zu Muthe, wie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/460>, abgerufen am 29.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.