geschehen, zog Heinrich ab mit seinem Brief und Becher; in den Gängen des weitläufigen Gerichts¬ hauses, wo eine Menge bekümmerter oder erbo¬ ster Streitführender auf und niederging oder auf Bänken saß, Verklagte und Ankläger, Schuldner und Gläubiger, stellte er einen armen Kerl an, der sich melancholisch da umhertrieb, und gab ihm den schweren Becher zu tragen. Wie er durch die belebte Stadt vor dem Träger hereilte und oft durch mehrere Menschen von ihm getrennt war, lüftete dieser neugierig den Deckel und guckte, was darinnen wäre. Als er das Gold sah, beschloß er, mit dem Schatz zu entwischen, da seine armen verhungerten Gedanken nicht wei¬ ter gingen, als die eines Hundes, der einen Bra¬ ten sieht. Er wollte nur warten, bis Heinrich ein- oder zweimal sich nach ihm umgesehen, wo er dann ein vergnügtes und biederes Gesicht ma¬ chen wollte, rüstig einherschreitend, jedoch unmittel¬ bar nach dem zweiten oder dritten Umsehen wollte er auf die Seite springen und sich im Wirrsal verlieren, da er dann auf mehrere Minuten sicher war. Da sich aber Heinrich gar nicht nach ihm
geſchehen, zog Heinrich ab mit ſeinem Brief und Becher; in den Gaͤngen des weitlaͤufigen Gerichts¬ hauſes, wo eine Menge bekuͤmmerter oder erbo¬ ſter Streitfuͤhrender auf und niederging oder auf Baͤnken ſaß, Verklagte und Anklaͤger, Schuldner und Glaͤubiger, ſtellte er einen armen Kerl an, der ſich melancholiſch da umhertrieb, und gab ihm den ſchweren Becher zu tragen. Wie er durch die belebte Stadt vor dem Traͤger hereilte und oft durch mehrere Menſchen von ihm getrennt war, luͤftete dieſer neugierig den Deckel und guckte, was darinnen waͤre. Als er das Gold ſah, beſchloß er, mit dem Schatz zu entwiſchen, da ſeine armen verhungerten Gedanken nicht wei¬ ter gingen, als die eines Hundes, der einen Bra¬ ten ſieht. Er wollte nur warten, bis Heinrich ein- oder zweimal ſich nach ihm umgeſehen, wo er dann ein vergnuͤgtes und biederes Geſicht ma¬ chen wollte, ruͤſtig einherſchreitend, jedoch unmittel¬ bar nach dem zweiten oder dritten Umſehen wollte er auf die Seite ſpringen und ſich im Wirrſal verlieren, da er dann auf mehrere Minuten ſicher war. Da ſich aber Heinrich gar nicht nach ihm
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geſchehen, zog Heinrich ab mit ſeinem Brief und
Becher; in den Gaͤngen des weitlaͤufigen Gerichts¬
hauſes, wo eine Menge bekuͤmmerter oder erbo¬
ſter Streitfuͤhrender auf und niederging oder auf
Baͤnken ſaß, Verklagte und Anklaͤger, Schuldner
und Glaͤubiger, ſtellte er einen armen Kerl an,
der ſich melancholiſch da umhertrieb, und gab ihm
den ſchweren Becher zu tragen. Wie er durch
die belebte Stadt vor dem Traͤger hereilte und
oft durch mehrere Menſchen von ihm getrennt
war, luͤftete dieſer neugierig den Deckel und
guckte, was darinnen waͤre. Als er das Gold
ſah, beſchloß er, mit dem Schatz zu entwiſchen,
da ſeine armen verhungerten Gedanken nicht wei¬
ter gingen, als die eines Hundes, der einen Bra¬
ten ſieht. Er wollte nur warten, bis Heinrich
ein- oder zweimal ſich nach ihm umgeſehen, wo
er dann ein vergnuͤgtes und biederes Geſicht ma¬
chen wollte, ruͤſtig einherſchreitend, jedoch unmittel¬
bar nach dem zweiten oder dritten Umſehen wollte
er auf die Seite ſpringen und ſich im Wirrſal
verlieren, da er dann auf mehrere Minuten ſicher
war. Da ſich aber Heinrich gar nicht nach ihm
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/455>, abgerufen am 29.11.2024.
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