Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

und das sie in buntes Papier wickelte, nachdem
sie eine selbst geschriebene Devise dazu gelegt.
Hierzu verwendete sie schöne und graziöse Verse
aus allen Sprachen und alten und neuen Dich¬
tern, am liebsten kleine gute Sinngedichte, welche
geeignet waren, angenehme und witzige Vorstel¬
lungen zu erregen und eine heitere Fröhlichkeit zu
verbreiten. Auch trieb sie allerhand Schwank da¬
mit, indem sie oft zwei verschiedene Zeilen aus
verschiedenen Dichtern zu einem Distichon zusam¬
menfügte, so daß man glaubte Bekanntes zu le¬
sen und doch nicht klug daraus wurde, indessen
die neue zierliche Wendung, der entgegengesetzte
Sinn, welchen das Unbekannt-bekannte abgab,
ergötzte und vielfältig in die Irre führte. Dort¬
chen wickelte jetzt rasch und nachdenklich den gan¬
zen Vorrath auf, warf die alten Zettelchen bei
Seite, und schrieb auf neue Streifchen feinen Pa¬
pieres zwanzig oder dreißig mal dasselbe Sinnge¬
dicht eines alten schlesischen Poeten. Dann wi¬
ckelte sie diese Zettel mit dem Zuckerwerke wieder
ein, wozu sie neues, nur weißes Papier nahm,
schloß ihre Thüre wieder auf und trug ihr Körb¬

IV. 28

und das ſie in buntes Papier wickelte, nachdem
ſie eine ſelbſt geſchriebene Deviſe dazu gelegt.
Hierzu verwendete ſie ſchoͤne und grazioͤſe Verſe
aus allen Sprachen und alten und neuen Dich¬
tern, am liebſten kleine gute Sinngedichte, welche
geeignet waren, angenehme und witzige Vorſtel¬
lungen zu erregen und eine heitere Froͤhlichkeit zu
verbreiten. Auch trieb ſie allerhand Schwank da¬
mit, indem ſie oft zwei verſchiedene Zeilen aus
verſchiedenen Dichtern zu einem Diſtichon zuſam¬
menfuͤgte, ſo daß man glaubte Bekanntes zu le¬
ſen und doch nicht klug daraus wurde, indeſſen
die neue zierliche Wendung, der entgegengeſetzte
Sinn, welchen das Unbekannt-bekannte abgab,
ergoͤtzte und vielfaͤltig in die Irre fuͤhrte. Dort¬
chen wickelte jetzt raſch und nachdenklich den gan¬
zen Vorrath auf, warf die alten Zettelchen bei
Seite, und ſchrieb auf neue Streifchen feinen Pa¬
pieres zwanzig oder dreißig mal daſſelbe Sinnge¬
dicht eines alten ſchleſiſchen Poeten. Dann wi¬
ckelte ſie dieſe Zettel mit dem Zuckerwerke wieder
ein, wozu ſie neues, nur weißes Papier nahm,
ſchloß ihre Thuͤre wieder auf und trug ihr Koͤrb¬

IV. 28
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0443" n="433"/>
und das &#x017F;ie in buntes Papier wickelte, nachdem<lb/>
&#x017F;ie eine &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;chriebene Devi&#x017F;e dazu gelegt.<lb/>
Hierzu verwendete &#x017F;ie &#x017F;cho&#x0364;ne und grazio&#x0364;&#x017F;e Ver&#x017F;e<lb/>
aus allen Sprachen und alten und neuen Dich¬<lb/>
tern, am lieb&#x017F;ten kleine gute Sinngedichte, welche<lb/>
geeignet waren, angenehme und witzige Vor&#x017F;tel¬<lb/>
lungen zu erregen und eine heitere Fro&#x0364;hlichkeit zu<lb/>
verbreiten. Auch trieb &#x017F;ie allerhand Schwank da¬<lb/>
mit, indem &#x017F;ie oft zwei ver&#x017F;chiedene Zeilen aus<lb/>
ver&#x017F;chiedenen Dichtern zu einem Di&#x017F;tichon zu&#x017F;am¬<lb/>
menfu&#x0364;gte, &#x017F;o daß man glaubte Bekanntes zu le¬<lb/>
&#x017F;en und doch nicht klug daraus wurde, inde&#x017F;&#x017F;en<lb/>
die neue zierliche Wendung, der entgegenge&#x017F;etzte<lb/>
Sinn, welchen das Unbekannt-bekannte abgab,<lb/>
ergo&#x0364;tzte und vielfa&#x0364;ltig in die Irre fu&#x0364;hrte. Dort¬<lb/>
chen wickelte jetzt ra&#x017F;ch und nachdenklich den gan¬<lb/>
zen Vorrath auf, warf die alten Zettelchen bei<lb/>
Seite, und &#x017F;chrieb auf neue Streifchen feinen Pa¬<lb/>
pieres zwanzig oder dreißig mal da&#x017F;&#x017F;elbe Sinnge¬<lb/>
dicht eines alten &#x017F;chle&#x017F;i&#x017F;chen Poeten. Dann wi¬<lb/>
ckelte &#x017F;ie die&#x017F;e Zettel mit dem Zuckerwerke wieder<lb/>
ein, wozu &#x017F;ie neues, nur weißes Papier nahm,<lb/>
&#x017F;chloß ihre Thu&#x0364;re wieder auf und trug ihr Ko&#x0364;rb¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">IV. 28<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[433/0443] und das ſie in buntes Papier wickelte, nachdem ſie eine ſelbſt geſchriebene Deviſe dazu gelegt. Hierzu verwendete ſie ſchoͤne und grazioͤſe Verſe aus allen Sprachen und alten und neuen Dich¬ tern, am liebſten kleine gute Sinngedichte, welche geeignet waren, angenehme und witzige Vorſtel¬ lungen zu erregen und eine heitere Froͤhlichkeit zu verbreiten. Auch trieb ſie allerhand Schwank da¬ mit, indem ſie oft zwei verſchiedene Zeilen aus verſchiedenen Dichtern zu einem Diſtichon zuſam¬ menfuͤgte, ſo daß man glaubte Bekanntes zu le¬ ſen und doch nicht klug daraus wurde, indeſſen die neue zierliche Wendung, der entgegengeſetzte Sinn, welchen das Unbekannt-bekannte abgab, ergoͤtzte und vielfaͤltig in die Irre fuͤhrte. Dort¬ chen wickelte jetzt raſch und nachdenklich den gan¬ zen Vorrath auf, warf die alten Zettelchen bei Seite, und ſchrieb auf neue Streifchen feinen Pa¬ pieres zwanzig oder dreißig mal daſſelbe Sinnge¬ dicht eines alten ſchleſiſchen Poeten. Dann wi¬ ckelte ſie dieſe Zettel mit dem Zuckerwerke wieder ein, wozu ſie neues, nur weißes Papier nahm, ſchloß ihre Thuͤre wieder auf und trug ihr Koͤrb¬ IV. 28

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/443
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/443>, abgerufen am 28.11.2024.