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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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er ging und stand, und als er dies endlich ent¬
deckte, war es ihm schon zur unentbehrlichen Ge¬
wohnheit geworden und schaffte ihm einige Er¬
leichterung, weil die stille Luft wenigstens seine
Gedanken hören konnte, da sonst Niemand auf
der Welt dieselben zu ahnen und zu errathen
schien. Selbst der Graf befragte ihn gar nicht,
was er hätte, und that als ob er gar nichts be¬
merkte von Heinrich's verändertem Wesen.

"O," sagte dieser unter den Bäumen, "was für
ein ungeschickter und gefrorner Christ bin ich ge¬
wesen, da ich keine Ahnung hatte von diesem leid¬
vollen und süßen Leben! Ist diese Teufelei also
die Liebe? Habe ich nur ein Stückchen Brot
weniger gegessen, als Anna krank war? Nein!
Habe ich eine Thräne vergossen, als sie starb?
Nein! Und doch that ich so schön mit meinen
Gefühlen! Ich schwur, der Todten ewig treu zu
sein; hier aber wäre es mir nicht einmal mög¬
lich, dieser Treue zu schwören, so lange sie lebt
und jung und schön ist, da dies sich ja von selbst
versteht und ich mir nichts Anderes denken kann!
Wäre es hier möglich, daß meine Neigung und

er ging und ſtand, und als er dies endlich ent¬
deckte, war es ihm ſchon zur unentbehrlichen Ge¬
wohnheit geworden und ſchaffte ihm einige Er¬
leichterung, weil die ſtille Luft wenigſtens ſeine
Gedanken hoͤren konnte, da ſonſt Niemand auf
der Welt dieſelben zu ahnen und zu errathen
ſchien. Selbſt der Graf befragte ihn gar nicht,
was er haͤtte, und that als ob er gar nichts be¬
merkte von Heinrich's veraͤndertem Weſen.

»O,« ſagte dieſer unter den Baͤumen, »was fuͤr
ein ungeſchickter und gefrorner Chriſt bin ich ge¬
weſen, da ich keine Ahnung hatte von dieſem leid¬
vollen und ſuͤßen Leben! Iſt dieſe Teufelei alſo
die Liebe? Habe ich nur ein Stuͤckchen Brot
weniger gegeſſen, als Anna krank war? Nein!
Habe ich eine Thraͤne vergoſſen, als ſie ſtarb?
Nein! Und doch that ich ſo ſchoͤn mit meinen
Gefuͤhlen! Ich ſchwur, der Todten ewig treu zu
ſein; hier aber waͤre es mir nicht einmal moͤg¬
lich, dieſer Treue zu ſchwoͤren, ſo lange ſie lebt
und jung und ſchoͤn iſt, da dies ſich ja von ſelbſt
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[405/0415] er ging und ſtand, und als er dies endlich ent¬ deckte, war es ihm ſchon zur unentbehrlichen Ge¬ wohnheit geworden und ſchaffte ihm einige Er¬ leichterung, weil die ſtille Luft wenigſtens ſeine Gedanken hoͤren konnte, da ſonſt Niemand auf der Welt dieſelben zu ahnen und zu errathen ſchien. Selbſt der Graf befragte ihn gar nicht, was er haͤtte, und that als ob er gar nichts be¬ merkte von Heinrich's veraͤndertem Weſen. »O,« ſagte dieſer unter den Baͤumen, »was fuͤr ein ungeſchickter und gefrorner Chriſt bin ich ge¬ weſen, da ich keine Ahnung hatte von dieſem leid¬ vollen und ſuͤßen Leben! Iſt dieſe Teufelei alſo die Liebe? Habe ich nur ein Stuͤckchen Brot weniger gegeſſen, als Anna krank war? Nein! Habe ich eine Thraͤne vergoſſen, als ſie ſtarb? Nein! Und doch that ich ſo ſchoͤn mit meinen Gefuͤhlen! Ich ſchwur, der Todten ewig treu zu ſein; hier aber waͤre es mir nicht einmal moͤg¬ lich, dieſer Treue zu ſchwoͤren, ſo lange ſie lebt und jung und ſchoͤn iſt, da dies ſich ja von ſelbſt verſteht und ich mir nichts Anderes denken kann! Waͤre es hier moͤglich, daß meine Neigung und

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/415>, abgerufen am 25.11.2024.