lichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich könnte mich darüber nicht trösten und müßte mich selbst der Frivolität zeihen, wenn ich nicht annehmen müßte, daß jene verblümte und naiv spaßhafte Art eigentlich nur die Hülle der völli¬ gen Geistesfreiheit gewesen sei, die ich mir endlich erworben habe!"
Dortchen hatte das Buch inzwischen auch in die Hand genommen und darin geblättert. "Wis¬ sen Sie, Herr Lee," sagte sie und sah ihn freund¬ lich an, "daß es mir sehr wohl gefällt, wie Sie ein so richtiges ernstes und ehrbares Gefühl ha¬ ben auch für den Gott, den Andere glauben? Dies ist sehr hübsch von Ihnen! Aber Himmel! welch' ein schöner Vers ist dies hier:
Blüh' auf, gefrorner Christ! Der Mai ist vor der Thür: Du bleibest ewig todt, blühst du nicht jetzt und hier.
Sie sprang an's Clavier und spielte und sang aus dem Stegreif diese sehnsüchtig lockenden Worte, in geistlich choralartigen Maßen und Tonfällen, doch mit einem wie verliebt zitternden durchaus weltlichen Ausdruck ihrer schönen Stimme.
lichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich koͤnnte mich daruͤber nicht troͤſten und muͤßte mich ſelbſt der Frivolitaͤt zeihen, wenn ich nicht annehmen muͤßte, daß jene verbluͤmte und naiv ſpaßhafte Art eigentlich nur die Huͤlle der voͤlli¬ gen Geiſtesfreiheit geweſen ſei, die ich mir endlich erworben habe!«
Dortchen hatte das Buch inzwiſchen auch in die Hand genommen und darin geblaͤttert. »Wiſ¬ ſen Sie, Herr Lee,« ſagte ſie und ſah ihn freund¬ lich an, »daß es mir ſehr wohl gefaͤllt, wie Sie ein ſo richtiges ernſtes und ehrbares Gefuͤhl ha¬ ben auch fuͤr den Gott, den Andere glauben? Dies iſt ſehr huͤbſch von Ihnen! Aber Himmel! welch' ein ſchoͤner Vers iſt dies hier:
Bluͤh' auf, gefrorner Chriſt! Der Mai iſt vor der Thuͤr: Du bleibeſt ewig todt, bluͤhſt du nicht jetzt und hier.
Sie ſprang an's Clavier und ſpielte und ſang aus dem Stegreif dieſe ſehnſuͤchtig lockenden Worte, in geiſtlich choralartigen Maßen und Tonfaͤllen, doch mit einem wie verliebt zitternden durchaus weltlichen Ausdruck ihrer ſchoͤnen Stimme.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0407"n="397"/>
lichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich<lb/>
koͤnnte mich daruͤber nicht troͤſten und muͤßte<lb/>
mich ſelbſt der Frivolitaͤt zeihen, wenn ich nicht<lb/>
annehmen muͤßte, daß jene verbluͤmte und naiv<lb/>ſpaßhafte Art eigentlich nur die Huͤlle der voͤlli¬<lb/>
gen Geiſtesfreiheit geweſen ſei, die ich mir endlich<lb/>
erworben habe!«</p><lb/><p>Dortchen hatte das Buch inzwiſchen auch in<lb/>
die Hand genommen und darin geblaͤttert. »Wiſ¬<lb/>ſen Sie, Herr Lee,« ſagte ſie und ſah ihn freund¬<lb/>
lich an, »daß es mir ſehr wohl gefaͤllt, wie Sie<lb/>
ein ſo richtiges ernſtes und ehrbares Gefuͤhl ha¬<lb/>
ben auch fuͤr den Gott, den Andere glauben?<lb/>
Dies iſt ſehr huͤbſch von Ihnen! Aber Himmel!<lb/>
welch' ein ſchoͤner Vers iſt dies hier:</p><lb/><lgtype="poem"><l>Bluͤh' auf, gefrorner Chriſt! Der Mai iſt vor der Thuͤr:</l><lb/><l>Du bleibeſt ewig todt, bluͤhſt du nicht jetzt und hier.</l><lb/></lg><p>Sie ſprang an's Clavier und ſpielte und ſang<lb/>
aus dem Stegreif dieſe ſehnſuͤchtig lockenden<lb/>
Worte, in geiſtlich choralartigen Maßen und<lb/>
Tonfaͤllen, doch mit einem wie verliebt zitternden<lb/>
durchaus weltlichen Ausdruck ihrer ſchoͤnen Stimme.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></body></text></TEI>
[397/0407]
lichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich
koͤnnte mich daruͤber nicht troͤſten und muͤßte
mich ſelbſt der Frivolitaͤt zeihen, wenn ich nicht
annehmen muͤßte, daß jene verbluͤmte und naiv
ſpaßhafte Art eigentlich nur die Huͤlle der voͤlli¬
gen Geiſtesfreiheit geweſen ſei, die ich mir endlich
erworben habe!«
Dortchen hatte das Buch inzwiſchen auch in
die Hand genommen und darin geblaͤttert. »Wiſ¬
ſen Sie, Herr Lee,« ſagte ſie und ſah ihn freund¬
lich an, »daß es mir ſehr wohl gefaͤllt, wie Sie
ein ſo richtiges ernſtes und ehrbares Gefuͤhl ha¬
ben auch fuͤr den Gott, den Andere glauben?
Dies iſt ſehr huͤbſch von Ihnen! Aber Himmel!
welch' ein ſchoͤner Vers iſt dies hier:
Bluͤh' auf, gefrorner Chriſt! Der Mai iſt vor der Thuͤr:
Du bleibeſt ewig todt, bluͤhſt du nicht jetzt und hier.
Sie ſprang an's Clavier und ſpielte und ſang
aus dem Stegreif dieſe ſehnſuͤchtig lockenden
Worte, in geiſtlich choralartigen Maßen und
Tonfaͤllen, doch mit einem wie verliebt zitternden
durchaus weltlichen Ausdruck ihrer ſchoͤnen Stimme.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/407>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.