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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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Auf fast ganz weibliche Weise schlüpfte Hein¬
rich in die Grundsätze derer hinein, die er liebte
und die ihm wohlwollten, und dies war wohl
weniger unmännliche Schwäche, als der allge¬
meine Hergang in diesen Dingen, wo die besten
Ueberzeugungen durch den Einfluß honetter und
klarer Persönlichkeit vermittelt werden. War doch
der Graf selbst, der gewiß ein Mann war, durch
das Wesen eines kleinen unwissenden Mädchens
zu seiner Abrechnung veranlaßt worden. Doch
wollte Heinrich nicht hinter ihm zurückbleiben
und studirte, wohl aufgelegt und von einer an¬
haltenden neigungsvollen Wärme durchdrungen,
die Geschichte des theologischen und philosophischen
Gedankenganges der neueren Zeit, wobei ihm
jede Erscheinung, jedes Für und Wider, in so¬
fern sie nur ganzer und wesentlicher Natur wa¬
ren, gleich lieb und wichtig wurden, und nur das
Naseweise, Inquisitorische und Fanatische in je¬
der Richtung widerte ihn an.

Die Cultur der Religionen vermag die Völ¬
ker nur aus dem Gröbsten zu hobeln und zu ver¬
ändern. Auf einer gewissen Stufe angekommen,

Auf faſt ganz weibliche Weiſe ſchluͤpfte Hein¬
rich in die Grundſaͤtze derer hinein, die er liebte
und die ihm wohlwollten, und dies war wohl
weniger unmaͤnnliche Schwaͤche, als der allge¬
meine Hergang in dieſen Dingen, wo die beſten
Ueberzeugungen durch den Einfluß honetter und
klarer Perſoͤnlichkeit vermittelt werden. War doch
der Graf ſelbſt, der gewiß ein Mann war, durch
das Weſen eines kleinen unwiſſenden Maͤdchens
zu ſeiner Abrechnung veranlaßt worden. Doch
wollte Heinrich nicht hinter ihm zuruͤckbleiben
und ſtudirte, wohl aufgelegt und von einer an¬
haltenden neigungsvollen Waͤrme durchdrungen,
die Geſchichte des theologiſchen und philoſophiſchen
Gedankenganges der neueren Zeit, wobei ihm
jede Erſcheinung, jedes Fuͤr und Wider, in ſo¬
fern ſie nur ganzer und weſentlicher Natur wa¬
ren, gleich lieb und wichtig wurden, und nur das
Naſeweiſe, Inquiſitoriſche und Fanatiſche in je¬
der Richtung widerte ihn an.

Die Cultur der Religionen vermag die Voͤl¬
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[389/0399] Auf faſt ganz weibliche Weiſe ſchluͤpfte Hein¬ rich in die Grundſaͤtze derer hinein, die er liebte und die ihm wohlwollten, und dies war wohl weniger unmaͤnnliche Schwaͤche, als der allge¬ meine Hergang in dieſen Dingen, wo die beſten Ueberzeugungen durch den Einfluß honetter und klarer Perſoͤnlichkeit vermittelt werden. War doch der Graf ſelbſt, der gewiß ein Mann war, durch das Weſen eines kleinen unwiſſenden Maͤdchens zu ſeiner Abrechnung veranlaßt worden. Doch wollte Heinrich nicht hinter ihm zuruͤckbleiben und ſtudirte, wohl aufgelegt und von einer an¬ haltenden neigungsvollen Waͤrme durchdrungen, die Geſchichte des theologiſchen und philoſophiſchen Gedankenganges der neueren Zeit, wobei ihm jede Erſcheinung, jedes Fuͤr und Wider, in ſo¬ fern ſie nur ganzer und weſentlicher Natur wa¬ ren, gleich lieb und wichtig wurden, und nur das Naſeweiſe, Inquiſitoriſche und Fanatiſche in je¬ der Richtung widerte ihn an. Die Cultur der Religionen vermag die Voͤl¬ ker nur aus dem Groͤbſten zu hobeln und zu ver¬ aͤndern. Auf einer gewiſſen Stufe angekommen,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/399>, abgerufen am 24.11.2024.