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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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möglichst anständig zu sein, wobei ihn seine Pfle¬
getochter mit geringer Mühe und großem Er¬
folge unterstützte. So kam es, daß der Gehaßte
und Verläumdete doch überall willkommen war
und die verkommenen übelwollenden Gesichter
gegen ihren Willen aufheiterte, so wie sie sich auch
etwas darauf zu gute thaten, in sein Haus zu
kommen, und trotz ihres Nasenrümpfens es nie
verfehlten, wenn er von Zeit zu Zeit die Pflich¬
ten der Nachbarschaft übte. Heinrich, als aus
den mittleren alten Schichten des Volkes ent¬
sprungen, hatte bis jetzt dergleichen nicht geahnt
oder geübt. Wen er nicht leiden konnte, mit
dem ging er nicht um, und war gewohnt, seine Ab¬
neigung wenig zu verhehlen, sowie auch jede Unver¬
schämtheit sogleich zu erwiedern und nichts zu er¬
tragen, was ihn nicht ansprach. Diese Volks¬
art, an sich gut und tugendhaft, ist in der gebil¬
deten Gesellschaft hinderlich und unstatthaft, da
in dieser wegen der Ungeschicklichkeit im Kleinen
daß Große und Wichtige gehemmt und getödtet
wird. Das Volk braucht nicht duldsam zu sein
im Kleinen, weil es das Große zu ertragen ver¬

moͤglichſt anſtaͤndig zu ſein, wobei ihn ſeine Pfle¬
getochter mit geringer Muͤhe und großem Er¬
folge unterſtuͤtzte. So kam es, daß der Gehaßte
und Verlaͤumdete doch uͤberall willkommen war
und die verkommenen uͤbelwollenden Geſichter
gegen ihren Willen aufheiterte, ſo wie ſie ſich auch
etwas darauf zu gute thaten, in ſein Haus zu
kommen, und trotz ihres Naſenruͤmpfens es nie
verfehlten, wenn er von Zeit zu Zeit die Pflich¬
ten der Nachbarſchaft uͤbte. Heinrich, als aus
den mittleren alten Schichten des Volkes ent¬
ſprungen, hatte bis jetzt dergleichen nicht geahnt
oder geuͤbt. Wen er nicht leiden konnte, mit
dem ging er nicht um, und war gewohnt, ſeine Ab¬
neigung wenig zu verhehlen, ſowie auch jede Unver¬
ſchaͤmtheit ſogleich zu erwiedern und nichts zu er¬
tragen, was ihn nicht anſprach. Dieſe Volks¬
art, an ſich gut und tugendhaft, iſt in der gebil¬
deten Geſellſchaft hinderlich und unſtatthaft, da
in dieſer wegen der Ungeſchicklichkeit im Kleinen
daß Große und Wichtige gehemmt und getoͤdtet
wird. Das Volk braucht nicht duldſam zu ſein
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[373/0383] moͤglichſt anſtaͤndig zu ſein, wobei ihn ſeine Pfle¬ getochter mit geringer Muͤhe und großem Er¬ folge unterſtuͤtzte. So kam es, daß der Gehaßte und Verlaͤumdete doch uͤberall willkommen war und die verkommenen uͤbelwollenden Geſichter gegen ihren Willen aufheiterte, ſo wie ſie ſich auch etwas darauf zu gute thaten, in ſein Haus zu kommen, und trotz ihres Naſenruͤmpfens es nie verfehlten, wenn er von Zeit zu Zeit die Pflich¬ ten der Nachbarſchaft uͤbte. Heinrich, als aus den mittleren alten Schichten des Volkes ent¬ ſprungen, hatte bis jetzt dergleichen nicht geahnt oder geuͤbt. Wen er nicht leiden konnte, mit dem ging er nicht um, und war gewohnt, ſeine Ab¬ neigung wenig zu verhehlen, ſowie auch jede Unver¬ ſchaͤmtheit ſogleich zu erwiedern und nichts zu er¬ tragen, was ihn nicht anſprach. Dieſe Volks¬ art, an ſich gut und tugendhaft, iſt in der gebil¬ deten Geſellſchaft hinderlich und unſtatthaft, da in dieſer wegen der Ungeſchicklichkeit im Kleinen daß Große und Wichtige gehemmt und getoͤdtet wird. Das Volk braucht nicht duldſam zu ſein im Kleinen, weil es das Große zu ertragen ver¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/383>, abgerufen am 24.11.2024.