kurz, sie athmete auf und lebte nach ihrer Weise herrlich und in Freuden, während Heinrich am gleichen Tage einen so rathlosen Zeitraum antrat, wie er ihn vor Kurzem noch nicht geahnt. Hatte sich seine Wohnung von allem Besitzthume ge¬ leert, so sah er jetzt, daß sie dennoch noch leerer und kahler werden konnte, indem er von den letz¬ ten fast völlig wertlhlosen Gegenständchen und Bruchstücken zehrte, und bald sah es so verzwei¬ felt dürr und hoffnungsarm um ihn aus, daß die Wirthin ihn auffordern mußte, sich eine andere Wohnung zu suchen; denn er war nun, wie sie wohl sah, unter den Stand ihrer eigenen Armuth hinabgesunken, und bei dieser Ungleichheit lag es nicht mehr in ihrem Vermögen, etwa auf sein besseres Glück zu bauen und die Selbsterhaltung hintan zu setzen.
So zog er mit seinem leeren Koffer, in wel¬ chem allein das Buch seiner Jugendgeschichte lag, in eine neue Wohnung und erlebte es zum ersten Male, von unbekannten Leuten gleich als Habenichts ohne Höflichkeit und mit Mißtrauen empfangen und angesehen zu werden, als sie seine Nichthabe
kurz, ſie athmete auf und lebte nach ihrer Weiſe herrlich und in Freuden, waͤhrend Heinrich am gleichen Tage einen ſo rathloſen Zeitraum antrat, wie er ihn vor Kurzem noch nicht geahnt. Hatte ſich ſeine Wohnung von allem Beſitzthume ge¬ leert, ſo ſah er jetzt, daß ſie dennoch noch leerer und kahler werden konnte, indem er von den letz¬ ten faſt voͤllig wertlhloſen Gegenſtaͤndchen und Bruchſtuͤcken zehrte, und bald ſah es ſo verzwei¬ felt duͤrr und hoffnungsarm um ihn aus, daß die Wirthin ihn auffordern mußte, ſich eine andere Wohnung zu ſuchen; denn er war nun, wie ſie wohl ſah, unter den Stand ihrer eigenen Armuth hinabgeſunken, und bei dieſer Ungleichheit lag es nicht mehr in ihrem Vermoͤgen, etwa auf ſein beſſeres Gluͤck zu bauen und die Selbſterhaltung hintan zu ſetzen.
So zog er mit ſeinem leeren Koffer, in wel¬ chem allein das Buch ſeiner Jugendgeſchichte lag, in eine neue Wohnung und erlebte es zum erſten Male, von unbekannten Leuten gleich als Habenichts ohne Hoͤflichkeit und mit Mißtrauen empfangen und angeſehen zu werden, als ſie ſeine Nichthabe
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[202/0212]
kurz, ſie athmete auf und lebte nach ihrer Weiſe
herrlich und in Freuden, waͤhrend Heinrich am
gleichen Tage einen ſo rathloſen Zeitraum antrat,
wie er ihn vor Kurzem noch nicht geahnt. Hatte
ſich ſeine Wohnung von allem Beſitzthume ge¬
leert, ſo ſah er jetzt, daß ſie dennoch noch leerer
und kahler werden konnte, indem er von den letz¬
ten faſt voͤllig wertlhloſen Gegenſtaͤndchen und
Bruchſtuͤcken zehrte, und bald ſah es ſo verzwei¬
felt duͤrr und hoffnungsarm um ihn aus, daß die
Wirthin ihn auffordern mußte, ſich eine andere
Wohnung zu ſuchen; denn er war nun, wie ſie
wohl ſah, unter den Stand ihrer eigenen Armuth
hinabgeſunken, und bei dieſer Ungleichheit lag es
nicht mehr in ihrem Vermoͤgen, etwa auf ſein
beſſeres Gluͤck zu bauen und die Selbſterhaltung
hintan zu ſetzen.
So zog er mit ſeinem leeren Koffer, in wel¬
chem allein das Buch ſeiner Jugendgeſchichte lag,
in eine neue Wohnung und erlebte es zum erſten
Male, von unbekannten Leuten gleich als Habenichts
ohne Hoͤflichkeit und mit Mißtrauen empfangen
und angeſehen zu werden, als ſie ſeine Nichthabe
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/212>, abgerufen am 25.11.2024.
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