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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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Draußen war es anhaltend das lieblichste
Sommerwetter, der Sonnenschein lag auf der
Stadt und dem ganzen Lande und die Leute trie¬
ben sich lebhafter als sonst im Freien herum,
theils im Verkehre für die zu treffenden Vorbe¬
reitungen, theils im Vorgenuß der kommenden
Festtage, welche dies dem Genusse nachhangende
Volk recht auszubeuten gedachte. Der Laden des
Alten war angefüllt mit Leuten, welche Fahnen
bestellten und holten, nähenden Mädchen, Tisch¬
lern, die Stangen brachten, und er selbst regierte,
lärmte und hantirte dazwischen herum, nahm
Geld ein und zählte Fahnen, und ab und zu
ging er einmal in Heinrich's Verlies hinein, wo
dieser mutterseelenallein in dem blassen Lichtstrahl
der Mauerritze stand, seinen weißen Stab drehete
und die sorgfältige reinliche Spirale zog.

Der Alte klopfte ihm dann sachte auf die
Schulter und flüsterte ihm in's Ohr: "So recht,
mein Söhnchen! dies ist die wahre Lebenslinie;
wenn Du die recht accurat und rasch ziehen lernst,
so hast Du Vieles gelernt!" Und wirklich fand
Heinrich in dieser einfachen und verachteten Ar¬

Draußen war es anhaltend das lieblichſte
Sommerwetter, der Sonnenſchein lag auf der
Stadt und dem ganzen Lande und die Leute trie¬
ben ſich lebhafter als ſonſt im Freien herum,
theils im Verkehre fuͤr die zu treffenden Vorbe¬
reitungen, theils im Vorgenuß der kommenden
Feſttage, welche dies dem Genuſſe nachhangende
Volk recht auszubeuten gedachte. Der Laden des
Alten war angefuͤllt mit Leuten, welche Fahnen
beſtellten und holten, naͤhenden Maͤdchen, Tiſch¬
lern, die Stangen brachten, und er ſelbſt regierte,
laͤrmte und hantirte dazwiſchen herum, nahm
Geld ein und zaͤhlte Fahnen, und ab und zu
ging er einmal in Heinrich's Verlies hinein, wo
dieſer mutterſeelenallein in dem blaſſen Lichtſtrahl
der Mauerritze ſtand, ſeinen weißen Stab drehete
und die ſorgfaͤltige reinliche Spirale zog.

Der Alte klopfte ihm dann ſachte auf die
Schulter und fluͤſterte ihm in's Ohr: »So recht,
mein Soͤhnchen! dies iſt die wahre Lebenslinie;
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ſo haſt Du Vieles gelernt!« Und wirklich fand
Heinrich in dieſer einfachen und verachteten Ar¬

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[190/0200] Draußen war es anhaltend das lieblichſte Sommerwetter, der Sonnenſchein lag auf der Stadt und dem ganzen Lande und die Leute trie¬ ben ſich lebhafter als ſonſt im Freien herum, theils im Verkehre fuͤr die zu treffenden Vorbe¬ reitungen, theils im Vorgenuß der kommenden Feſttage, welche dies dem Genuſſe nachhangende Volk recht auszubeuten gedachte. Der Laden des Alten war angefuͤllt mit Leuten, welche Fahnen beſtellten und holten, naͤhenden Maͤdchen, Tiſch¬ lern, die Stangen brachten, und er ſelbſt regierte, laͤrmte und hantirte dazwiſchen herum, nahm Geld ein und zaͤhlte Fahnen, und ab und zu ging er einmal in Heinrich's Verlies hinein, wo dieſer mutterſeelenallein in dem blaſſen Lichtſtrahl der Mauerritze ſtand, ſeinen weißen Stab drehete und die ſorgfaͤltige reinliche Spirale zog. Der Alte klopfte ihm dann ſachte auf die Schulter und fluͤſterte ihm in's Ohr: »So recht, mein Soͤhnchen! dies iſt die wahre Lebenslinie; wenn Du die recht accurat und raſch ziehen lernſt, ſo haſt Du Vieles gelernt!« Und wirklich fand Heinrich in dieſer einfachen und verachteten Ar¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/200>, abgerufen am 22.11.2024.