Heinrich trug dazumal die Ganskeule wirklich nach Hause. Auf der Schwelle sah er ein Bet¬ telweib sitzen, welches ihn in so erbärmlichen Tönen um Barmherzigkeit anflehte, als ob es am Spieße stäke, und Heinrich fuhr mit der Hand in die Tasche, um hier auf die beste Weise das Nahrungsmittel anzubringen und zugleich dem Alten einen Streich zu spielen. Wie er aber die elende und hinfällige alte Frau näher ansah, da verging ihm endlich der letzte Stolz, und statt des Fleisches gab er ihr eines der Geld¬ stücke, die er eben von seinem Gönner erhalten, ging auf seine Stube und aß die Ganskeule aus der einen Hand, aus der anderen das Brot, nicht um sich gütlich zu thun, sondern zu Ehren und zu Liebe der Menschlichkeit und der Armuth, welche die Mutter der Menschlichkeit ist, und diese ein¬ same Mahlzeit war gewissermaßen seine nachge¬ holte und verbesserte Abendmahlsfeier.
So erhielt er sich ein gutes halbes Jahr, und so wenig der Alte ihm für seine mannigfaltigen Studienblätter, Skizzen und Zeichnungen gab, so
Heinrich trug dazumal die Ganskeule wirklich nach Hauſe. Auf der Schwelle ſah er ein Bet¬ telweib ſitzen, welches ihn in ſo erbaͤrmlichen Toͤnen um Barmherzigkeit anflehte, als ob es am Spieße ſtaͤke, und Heinrich fuhr mit der Hand in die Taſche, um hier auf die beſte Weiſe das Nahrungsmittel anzubringen und zugleich dem Alten einen Streich zu ſpielen. Wie er aber die elende und hinfaͤllige alte Frau naͤher anſah, da verging ihm endlich der letzte Stolz, und ſtatt des Fleiſches gab er ihr eines der Geld¬ ſtuͤcke, die er eben von ſeinem Goͤnner erhalten, ging auf ſeine Stube und aß die Ganskeule aus der einen Hand, aus der anderen das Brot, nicht um ſich guͤtlich zu thun, ſondern zu Ehren und zu Liebe der Menſchlichkeit und der Armuth, welche die Mutter der Menſchlichkeit iſt, und dieſe ein¬ ſame Mahlzeit war gewiſſermaßen ſeine nachge¬ holte und verbeſſerte Abendmahlsfeier.
So erhielt er ſich ein gutes halbes Jahr, und ſo wenig der Alte ihm fuͤr ſeine mannigfaltigen Studienblaͤtter, Skizzen und Zeichnungen gab, ſo
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Heinrich trug dazumal die Ganskeule wirklich
nach Hauſe. Auf der Schwelle ſah er ein Bet¬
telweib ſitzen, welches ihn in ſo erbaͤrmlichen
Toͤnen um Barmherzigkeit anflehte, als ob es
am Spieße ſtaͤke, und Heinrich fuhr mit der
Hand in die Taſche, um hier auf die beſte Weiſe
das Nahrungsmittel anzubringen und zugleich
dem Alten einen Streich zu ſpielen. Wie er
aber die elende und hinfaͤllige alte Frau naͤher
anſah, da verging ihm endlich der letzte Stolz,
und ſtatt des Fleiſches gab er ihr eines der Geld¬
ſtuͤcke, die er eben von ſeinem Goͤnner erhalten,
ging auf ſeine Stube und aß die Ganskeule aus
der einen Hand, aus der anderen das Brot, nicht
um ſich guͤtlich zu thun, ſondern zu Ehren und
zu Liebe der Menſchlichkeit und der Armuth, welche
die Mutter der Menſchlichkeit iſt, und dieſe ein¬
ſame Mahlzeit war gewiſſermaßen ſeine nachge¬
holte und verbeſſerte Abendmahlsfeier.
So erhielt er ſich ein gutes halbes Jahr, und
ſo wenig der Alte ihm fuͤr ſeine mannigfaltigen
Studienblaͤtter, Skizzen und Zeichnungen gab, ſo
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/185>, abgerufen am 28.11.2024.
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