"Hören Sie diesen verfluchten Hahn krähen?" rief er, "dies ist nur ein Mittel von Tausenden, die sie zu meiner Qual anwenden; sie wissen, daß der Hahnenschrei mein ganzes Nervensystem erschüttert und mich zu jedem Nachdenken un¬ tauglich macht; deshalb hält man überall Hähne in meiner Nähe und läßt sie spielen, sobald man die verlangten Depeschen von mir hat, damit das Räderwerk meines Geistes für den übrigen Tag still stehe! Glauben Sie wohl, daß dies Haus hier ganz mit verborgenen Röhren durchzogen ist, daß man jedes Wort hört, das wir sprechen, und Alles sieht, was wir thun?"
Ich sah mich im Zimmer um und versuchte einige Einwendungen zu machen, welche jedoch durch seine bestimmten, geheimnißvollen und wich¬ tigen Blicke und Worte unterdrückt wurden. So lange ich mit ihm sprach, befand ich mich in der wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe halbgläubig das Mährchen eines Erwachsenen anhört, welcher ihm lieb ist und seiner Achtung genießt; war ich aber allein, so mußte ich mir gestehen, daß ich daß Beste, was ich bisher
»Hoͤren Sie dieſen verfluchten Hahn kraͤhen?« rief er, »dies iſt nur ein Mittel von Tauſenden, die ſie zu meiner Qual anwenden; ſie wiſſen, daß der Hahnenſchrei mein ganzes Nervenſyſtem erſchuͤttert und mich zu jedem Nachdenken un¬ tauglich macht; deshalb haͤlt man uͤberall Haͤhne in meiner Naͤhe und laͤßt ſie ſpielen, ſobald man die verlangten Depeſchen von mir hat, damit das Raͤderwerk meines Geiſtes fuͤr den uͤbrigen Tag ſtill ſtehe! Glauben Sie wohl, daß dies Haus hier ganz mit verborgenen Roͤhren durchzogen iſt, daß man jedes Wort hoͤrt, das wir ſprechen, und Alles ſieht, was wir thun?«
Ich ſah mich im Zimmer um und verſuchte einige Einwendungen zu machen, welche jedoch durch ſeine beſtimmten, geheimnißvollen und wich¬ tigen Blicke und Worte unterdruͤckt wurden. So lange ich mit ihm ſprach, befand ich mich in der wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe halbglaͤubig das Maͤhrchen eines Erwachſenen anhoͤrt, welcher ihm lieb iſt und ſeiner Achtung genießt; war ich aber allein, ſo mußte ich mir geſtehen, daß ich daß Beſte, was ich bisher
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0092"n="82"/><p>»Hoͤren Sie dieſen verfluchten Hahn kraͤhen?«<lb/>
rief er, »dies iſt nur ein Mittel von Tauſenden,<lb/>
die ſie zu meiner Qual anwenden; ſie wiſſen,<lb/>
daß der Hahnenſchrei mein ganzes Nervenſyſtem<lb/>
erſchuͤttert und mich zu jedem Nachdenken un¬<lb/>
tauglich macht; deshalb haͤlt man uͤberall Haͤhne<lb/>
in meiner Naͤhe und laͤßt ſie ſpielen, ſobald man<lb/>
die verlangten Depeſchen von mir hat, damit das<lb/>
Raͤderwerk meines Geiſtes fuͤr den uͤbrigen Tag<lb/>ſtill ſtehe! Glauben Sie wohl, daß dies Haus<lb/>
hier ganz mit verborgenen Roͤhren durchzogen iſt,<lb/>
daß man jedes Wort hoͤrt, das wir ſprechen, und<lb/>
Alles ſieht, was wir thun?«</p><lb/><p>Ich ſah mich im Zimmer um und verſuchte<lb/>
einige Einwendungen zu machen, welche jedoch<lb/>
durch ſeine beſtimmten, geheimnißvollen und wich¬<lb/>
tigen Blicke und Worte unterdruͤckt wurden. So<lb/>
lange ich mit ihm ſprach, befand ich mich in der<lb/>
wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe<lb/>
halbglaͤubig das Maͤhrchen eines Erwachſenen<lb/>
anhoͤrt, welcher ihm lieb iſt und ſeiner Achtung<lb/>
genießt; war ich aber allein, ſo mußte ich mir<lb/>
geſtehen, daß ich daß Beſte, was ich bisher<lb/></p></div></body></text></TEI>
[82/0092]
»Hoͤren Sie dieſen verfluchten Hahn kraͤhen?«
rief er, »dies iſt nur ein Mittel von Tauſenden,
die ſie zu meiner Qual anwenden; ſie wiſſen,
daß der Hahnenſchrei mein ganzes Nervenſyſtem
erſchuͤttert und mich zu jedem Nachdenken un¬
tauglich macht; deshalb haͤlt man uͤberall Haͤhne
in meiner Naͤhe und laͤßt ſie ſpielen, ſobald man
die verlangten Depeſchen von mir hat, damit das
Raͤderwerk meines Geiſtes fuͤr den uͤbrigen Tag
ſtill ſtehe! Glauben Sie wohl, daß dies Haus
hier ganz mit verborgenen Roͤhren durchzogen iſt,
daß man jedes Wort hoͤrt, das wir ſprechen, und
Alles ſieht, was wir thun?«
Ich ſah mich im Zimmer um und verſuchte
einige Einwendungen zu machen, welche jedoch
durch ſeine beſtimmten, geheimnißvollen und wich¬
tigen Blicke und Worte unterdruͤckt wurden. So
lange ich mit ihm ſprach, befand ich mich in der
wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe
halbglaͤubig das Maͤhrchen eines Erwachſenen
anhoͤrt, welcher ihm lieb iſt und ſeiner Achtung
genießt; war ich aber allein, ſo mußte ich mir
geſtehen, daß ich daß Beſte, was ich bisher
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/92>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.