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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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"Hören Sie diesen verfluchten Hahn krähen?"
rief er, "dies ist nur ein Mittel von Tausenden,
die sie zu meiner Qual anwenden; sie wissen,
daß der Hahnenschrei mein ganzes Nervensystem
erschüttert und mich zu jedem Nachdenken un¬
tauglich macht; deshalb hält man überall Hähne
in meiner Nähe und läßt sie spielen, sobald man
die verlangten Depeschen von mir hat, damit das
Räderwerk meines Geistes für den übrigen Tag
still stehe! Glauben Sie wohl, daß dies Haus
hier ganz mit verborgenen Röhren durchzogen ist,
daß man jedes Wort hört, das wir sprechen, und
Alles sieht, was wir thun?"

Ich sah mich im Zimmer um und versuchte
einige Einwendungen zu machen, welche jedoch
durch seine bestimmten, geheimnißvollen und wich¬
tigen Blicke und Worte unterdrückt wurden. So
lange ich mit ihm sprach, befand ich mich in der
wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe
halbgläubig das Mährchen eines Erwachsenen
anhört, welcher ihm lieb ist und seiner Achtung
genießt; war ich aber allein, so mußte ich mir
gestehen, daß ich daß Beste, was ich bisher

»Hoͤren Sie dieſen verfluchten Hahn kraͤhen?«
rief er, »dies iſt nur ein Mittel von Tauſenden,
die ſie zu meiner Qual anwenden; ſie wiſſen,
daß der Hahnenſchrei mein ganzes Nervenſyſtem
erſchuͤttert und mich zu jedem Nachdenken un¬
tauglich macht; deshalb haͤlt man uͤberall Haͤhne
in meiner Naͤhe und laͤßt ſie ſpielen, ſobald man
die verlangten Depeſchen von mir hat, damit das
Raͤderwerk meines Geiſtes fuͤr den uͤbrigen Tag
ſtill ſtehe! Glauben Sie wohl, daß dies Haus
hier ganz mit verborgenen Roͤhren durchzogen iſt,
daß man jedes Wort hoͤrt, das wir ſprechen, und
Alles ſieht, was wir thun?«

Ich ſah mich im Zimmer um und verſuchte
einige Einwendungen zu machen, welche jedoch
durch ſeine beſtimmten, geheimnißvollen und wich¬
tigen Blicke und Worte unterdruͤckt wurden. So
lange ich mit ihm ſprach, befand ich mich in der
wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe
halbglaͤubig das Maͤhrchen eines Erwachſenen
anhoͤrt, welcher ihm lieb iſt und ſeiner Achtung
genießt; war ich aber allein, ſo mußte ich mir
geſtehen, daß ich daß Beſte, was ich bisher

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[82/0092] »Hoͤren Sie dieſen verfluchten Hahn kraͤhen?« rief er, »dies iſt nur ein Mittel von Tauſenden, die ſie zu meiner Qual anwenden; ſie wiſſen, daß der Hahnenſchrei mein ganzes Nervenſyſtem erſchuͤttert und mich zu jedem Nachdenken un¬ tauglich macht; deshalb haͤlt man uͤberall Haͤhne in meiner Naͤhe und laͤßt ſie ſpielen, ſobald man die verlangten Depeſchen von mir hat, damit das Raͤderwerk meines Geiſtes fuͤr den uͤbrigen Tag ſtill ſtehe! Glauben Sie wohl, daß dies Haus hier ganz mit verborgenen Roͤhren durchzogen iſt, daß man jedes Wort hoͤrt, das wir ſprechen, und Alles ſieht, was wir thun?« Ich ſah mich im Zimmer um und verſuchte einige Einwendungen zu machen, welche jedoch durch ſeine beſtimmten, geheimnißvollen und wich¬ tigen Blicke und Worte unterdruͤckt wurden. So lange ich mit ihm ſprach, befand ich mich in der wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe halbglaͤubig das Maͤhrchen eines Erwachſenen anhoͤrt, welcher ihm lieb iſt und ſeiner Achtung genießt; war ich aber allein, ſo mußte ich mir geſtehen, daß ich daß Beſte, was ich bisher

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/92>, abgerufen am 23.11.2024.