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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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hatte ihr Kleid des nassen Grases wegen etwas
aufgeschürzt und zeigte die schönsten Füße; ihr
Haar war von Feuchte schwer und das Gesicht
von der Herbstluft mit reinem Purpur geröthet.
So kam sie gerade auf mich zu, auf ihren Korb
blickend, sah mich plötzlich, stellte erst erbleichend
den Korb zur Erde und eilte dann mit den Zei¬
chen der herzlichsten und aufrichtigsten Freude auf
mich zu, fiel mir um den Hals und drückte mir
ein Dutzend voll und rein ausgeprägte Küsse auf
die Lippen. Ich hatte Mühe, dies nicht zu er¬
wiedern und rang mich endlich von ihrer Brust
los.

"Sieh, sieh! Du gescheidtes Bürschchen!" sagte
sie froh lachend, "Du bist heute gekommen und
machst Dir gleich den Nebel zu Nutze, mich noch
vor Nacht heimzusuchen; das hätte ich Dir nicht
einmal zugetraut!"-- "Nein," erwiederte ich zur
Erde blickend, "ich bin gestern gekommen und
wohne bei'm Schulmeister, weil Anna krank ist.
Unter diesen Umständen kann ich jedenfalls nicht
zu Dir kommen!" Judith schwieg eine Weile,
die Arme über einander geschlagen und sah mich

hatte ihr Kleid des naſſen Graſes wegen etwas
aufgeſchuͤrzt und zeigte die ſchoͤnſten Fuͤße; ihr
Haar war von Feuchte ſchwer und das Geſicht
von der Herbſtluft mit reinem Purpur geroͤthet.
So kam ſie gerade auf mich zu, auf ihren Korb
blickend, ſah mich ploͤtzlich, ſtellte erſt erbleichend
den Korb zur Erde und eilte dann mit den Zei¬
chen der herzlichſten und aufrichtigſten Freude auf
mich zu, fiel mir um den Hals und druͤckte mir
ein Dutzend voll und rein ausgepraͤgte Kuͤſſe auf
die Lippen. Ich hatte Muͤhe, dies nicht zu er¬
wiedern und rang mich endlich von ihrer Bruſt
los.

»Sieh, ſieh! Du geſcheidtes Buͤrſchchen!« ſagte
ſie froh lachend, »Du biſt heute gekommen und
machſt Dir gleich den Nebel zu Nutze, mich noch
vor Nacht heimzuſuchen; das haͤtte ich Dir nicht
einmal zugetraut!«— »Nein,« erwiederte ich zur
Erde blickend, »ich bin geſtern gekommen und
wohne bei'm Schulmeiſter, weil Anna krank iſt.
Unter dieſen Umſtaͤnden kann ich jedenfalls nicht
zu Dir kommen!« Judith ſchwieg eine Weile,
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[61/0071] hatte ihr Kleid des naſſen Graſes wegen etwas aufgeſchuͤrzt und zeigte die ſchoͤnſten Fuͤße; ihr Haar war von Feuchte ſchwer und das Geſicht von der Herbſtluft mit reinem Purpur geroͤthet. So kam ſie gerade auf mich zu, auf ihren Korb blickend, ſah mich ploͤtzlich, ſtellte erſt erbleichend den Korb zur Erde und eilte dann mit den Zei¬ chen der herzlichſten und aufrichtigſten Freude auf mich zu, fiel mir um den Hals und druͤckte mir ein Dutzend voll und rein ausgepraͤgte Kuͤſſe auf die Lippen. Ich hatte Muͤhe, dies nicht zu er¬ wiedern und rang mich endlich von ihrer Bruſt los. »Sieh, ſieh! Du geſcheidtes Buͤrſchchen!« ſagte ſie froh lachend, »Du biſt heute gekommen und machſt Dir gleich den Nebel zu Nutze, mich noch vor Nacht heimzuſuchen; das haͤtte ich Dir nicht einmal zugetraut!«— »Nein,« erwiederte ich zur Erde blickend, »ich bin geſtern gekommen und wohne bei'm Schulmeiſter, weil Anna krank iſt. Unter dieſen Umſtaͤnden kann ich jedenfalls nicht zu Dir kommen!« Judith ſchwieg eine Weile, die Arme uͤber einander geſchlagen und ſah mich

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/71>, abgerufen am 23.11.2024.