klugem und immer lächelndem Angesicht. Doch das kranke Reis erholte sich, der wunderbare Aus¬ druck der durch das Leiden hervorgebrachten frü¬ hen Weisheit verschwand wieder in seine unbe¬ kannte Heimath, und ein rosig unbefangenes Kind blühte, als ob nichts vorgefallen wäre, der Zeit entgegen, wo ich es zuerst sah.
Endlich zeigte sich der Schulmeister, welcher, da seine Tochter nun des Morgens länger im Bette bleiben mußte und länger schlief als früher, sich des frühen Aufstehens auch nicht mehr freute und in seiner Zeiteintheilung ganz nach derjeni¬ gen seines kranken Kindes richtete. Nach einer guten Weile erschien auch Anna und nahm ihr besonders vorgeschriebenes Frühstück, indessen wir das ge¬ wöhnliche verzehrten. Es verbreitete sich dadurch eine gewisse Wehmuth über den Tisch, welche nach und nach in eine ernste Beschaulichkeit überging, als wir Drei sitzen blieben und uns unterhielten. Der Schulmeister nahm ein Buch, die Nachfolge Christi von Thomas a Kempis, und las einige Seiten daraus vor, indessen Anna ihre Stickerei vornahm. Dann hob ihr Vater über das Gelesene
klugem und immer laͤchelndem Angeſicht. Doch das kranke Reis erholte ſich, der wunderbare Aus¬ druck der durch das Leiden hervorgebrachten fruͤ¬ hen Weisheit verſchwand wieder in ſeine unbe¬ kannte Heimath, und ein roſig unbefangenes Kind bluͤhte, als ob nichts vorgefallen waͤre, der Zeit entgegen, wo ich es zuerſt ſah.
Endlich zeigte ſich der Schulmeiſter, welcher, da ſeine Tochter nun des Morgens laͤnger im Bette bleiben mußte und laͤnger ſchlief als fruͤher, ſich des fruͤhen Aufſtehens auch nicht mehr freute und in ſeiner Zeiteintheilung ganz nach derjeni¬ gen ſeines kranken Kindes richtete. Nach einer guten Weile erſchien auch Anna und nahm ihr beſonders vorgeſchriebenes Fruͤhſtuͤck, indeſſen wir das ge¬ woͤhnliche verzehrten. Es verbreitete ſich dadurch eine gewiſſe Wehmuth uͤber den Tiſch, welche nach und nach in eine ernſte Beſchaulichkeit uͤberging, als wir Drei ſitzen blieben und uns unterhielten. Der Schulmeiſter nahm ein Buch, die Nachfolge Chriſti von Thomas a Kempis, und las einige Seiten daraus vor, indeſſen Anna ihre Stickerei vornahm. Dann hob ihr Vater uͤber das Geleſene
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klugem und immer laͤchelndem Angeſicht. Doch
das kranke Reis erholte ſich, der wunderbare Aus¬
druck der durch das Leiden hervorgebrachten fruͤ¬
hen Weisheit verſchwand wieder in ſeine unbe¬
kannte Heimath, und ein roſig unbefangenes Kind
bluͤhte, als ob nichts vorgefallen waͤre, der Zeit
entgegen, wo ich es zuerſt ſah.
Endlich zeigte ſich der Schulmeiſter, welcher,
da ſeine Tochter nun des Morgens laͤnger im
Bette bleiben mußte und laͤnger ſchlief als fruͤher,
ſich des fruͤhen Aufſtehens auch nicht mehr freute
und in ſeiner Zeiteintheilung ganz nach derjeni¬
gen ſeines kranken Kindes richtete. Nach einer guten
Weile erſchien auch Anna und nahm ihr beſonders
vorgeſchriebenes Fruͤhſtuͤck, indeſſen wir das ge¬
woͤhnliche verzehrten. Es verbreitete ſich dadurch
eine gewiſſe Wehmuth uͤber den Tiſch, welche nach
und nach in eine ernſte Beſchaulichkeit uͤberging,
als wir Drei ſitzen blieben und uns unterhielten.
Der Schulmeiſter nahm ein Buch, die Nachfolge
Chriſti von Thomas a Kempis, und las einige
Seiten daraus vor, indeſſen Anna ihre Stickerei
vornahm. Dann hob ihr Vater uͤber das Geleſene
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/67>, abgerufen am 23.11.2024.
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