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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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aus, als gestern; denn ihr seltsamer Zustand, in
dem sie nicht geschlafen hatte, während sie doch
von neuer Hoffnung und Sehnsucht belebt und
durchglüht war, warf einen geisterhaften Glanz
über sie.

Sie fuhren in verschlossenem Wagen durch
die Stadt; sobald sie aber im sonnigen Freien
waren, ließ Heinrich die Decke zurückschlagen.
Agnes athmete auf und fing an zu plaudern.
Heinrich mußte ihr erzählen, wie die heutige Lust¬
barkeit sich veranlaßt habe, wer draußen zu tref¬
fen und wo Ferdinand sei. Sie wurde immer
vertraulicher, sah ihm freundlich lächelnd in die
Augen und ergriff seine Hand; denn er war ihr
wie ein guter Engel erschienen, der sie zum Glücke
führen sollte. Die Landleute am Wege sahen
mit Verwunderung das einzelne Pärchen dahin
fahren, das wie aus einer anderen Welt kam,
und Heinrich fühlte sich zufrieden und beglückt.

Der Mensch nährt sich, wird gut oder böse,
vom Schein. Wenn ihm das Glück eine bloße
Situation giebt, so wurzelt er daran, wie eine
Pflanze am nackten Felsen. Weil Heinrich nun

aus, als geſtern; denn ihr ſeltſamer Zuſtand, in
dem ſie nicht geſchlafen hatte, waͤhrend ſie doch
von neuer Hoffnung und Sehnſucht belebt und
durchgluͤht war, warf einen geiſterhaften Glanz
uͤber ſie.

Sie fuhren in verſchloſſenem Wagen durch
die Stadt; ſobald ſie aber im ſonnigen Freien
waren, ließ Heinrich die Decke zuruͤckſchlagen.
Agnes athmete auf und fing an zu plaudern.
Heinrich mußte ihr erzaͤhlen, wie die heutige Luſt¬
barkeit ſich veranlaßt habe, wer draußen zu tref¬
fen und wo Ferdinand ſei. Sie wurde immer
vertraulicher, ſah ihm freundlich laͤchelnd in die
Augen und ergriff ſeine Hand; denn er war ihr
wie ein guter Engel erſchienen, der ſie zum Gluͤcke
fuͤhren ſollte. Die Landleute am Wege ſahen
mit Verwunderung das einzelne Paͤrchen dahin
fahren, das wie aus einer anderen Welt kam,
und Heinrich fuͤhlte ſich zufrieden und begluͤckt.

Der Menſch naͤhrt ſich, wird gut oder boͤſe,
vom Schein. Wenn ihm das Gluͤck eine bloße
Situation giebt, ſo wurzelt er daran, wie eine
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[312/0322] aus, als geſtern; denn ihr ſeltſamer Zuſtand, in dem ſie nicht geſchlafen hatte, waͤhrend ſie doch von neuer Hoffnung und Sehnſucht belebt und durchgluͤht war, warf einen geiſterhaften Glanz uͤber ſie. Sie fuhren in verſchloſſenem Wagen durch die Stadt; ſobald ſie aber im ſonnigen Freien waren, ließ Heinrich die Decke zuruͤckſchlagen. Agnes athmete auf und fing an zu plaudern. Heinrich mußte ihr erzaͤhlen, wie die heutige Luſt¬ barkeit ſich veranlaßt habe, wer draußen zu tref¬ fen und wo Ferdinand ſei. Sie wurde immer vertraulicher, ſah ihm freundlich laͤchelnd in die Augen und ergriff ſeine Hand; denn er war ihr wie ein guter Engel erſchienen, der ſie zum Gluͤcke fuͤhren ſollte. Die Landleute am Wege ſahen mit Verwunderung das einzelne Paͤrchen dahin fahren, das wie aus einer anderen Welt kam, und Heinrich fuͤhlte ſich zufrieden und begluͤckt. Der Menſch naͤhrt ſich, wird gut oder boͤſe, vom Schein. Wenn ihm das Gluͤck eine bloße Situation giebt, ſo wurzelt er daran, wie eine Pflanze am nackten Felſen. Weil Heinrich nun

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/322>, abgerufen am 22.11.2024.