Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.siven Stellung und suchte derselben einen brüder¬ Auch wußte das ärmste Kind ihm keinen ſiven Stellung und ſuchte derſelben einen bruͤder¬ Auch wußte das aͤrmſte Kind ihm keinen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0233" n="223"/> ſiven Stellung und ſuchte derſelben einen bruͤder¬<lb/> lich freundſchaftlichen Anſtrich zu geben. Er be¬<lb/> handelte ſie mehr als Kind und nahm ſcheinbar<lb/> ihre Liebkoſungen als diejenigen einer kleinen<lb/> Freundin hin, ſuchte ſie zu unterrichten und nahm<lb/> hin und wieder ein kaltes und ernſthaftes Anſe¬<lb/> hen an. Aengſtlich vermied er, das Wort Liebe<lb/> auszuſprechen oder es zu veranlaſſen und ver¬<lb/> mied mit dem Maͤdchen allein zu ſein. So<lb/> glaubte er als ein Mann zu handeln und ſeiner<lb/> Pflicht und Ehre zu genuͤgen und ahnte nicht,<lb/> daß er aͤcht weiblich zu Werke ging. Denn er<lb/> war nun wirklich auf dem Punkte angelangt,<lb/> wo liebenswuͤrdige und geiſtreiche Maͤnner gerade<lb/> ſo auf eigennuͤtzige Weiſe mit weiblichen Weſen<lb/> ſpielen, wie es tugendhafte Coquetten mit jungen<lb/> Maͤnnern zu thun pflegen.</p><lb/> <p>Auch wußte das aͤrmſte Kind ihm keinen<lb/> Dank dafuͤr. Sie achtete nicht auf ſeinen Unter¬<lb/> richt und wurde traurig oder unmuthig, wenn<lb/> er die vaͤterliche Art annahm. Hundertmal<lb/> ſuchte ſie das Wort auf Liebe und verliebte<lb/> Dinge ſchuͤchtern zu lenken; allein er ſtellte ſich,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [223/0233]
ſiven Stellung und ſuchte derſelben einen bruͤder¬
lich freundſchaftlichen Anſtrich zu geben. Er be¬
handelte ſie mehr als Kind und nahm ſcheinbar
ihre Liebkoſungen als diejenigen einer kleinen
Freundin hin, ſuchte ſie zu unterrichten und nahm
hin und wieder ein kaltes und ernſthaftes Anſe¬
hen an. Aengſtlich vermied er, das Wort Liebe
auszuſprechen oder es zu veranlaſſen und ver¬
mied mit dem Maͤdchen allein zu ſein. So
glaubte er als ein Mann zu handeln und ſeiner
Pflicht und Ehre zu genuͤgen und ahnte nicht,
daß er aͤcht weiblich zu Werke ging. Denn er
war nun wirklich auf dem Punkte angelangt,
wo liebenswuͤrdige und geiſtreiche Maͤnner gerade
ſo auf eigennuͤtzige Weiſe mit weiblichen Weſen
ſpielen, wie es tugendhafte Coquetten mit jungen
Maͤnnern zu thun pflegen.
Auch wußte das aͤrmſte Kind ihm keinen
Dank dafuͤr. Sie achtete nicht auf ſeinen Unter¬
richt und wurde traurig oder unmuthig, wenn
er die vaͤterliche Art annahm. Hundertmal
ſuchte ſie das Wort auf Liebe und verliebte
Dinge ſchuͤchtern zu lenken; allein er ſtellte ſich,
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