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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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wuchtete rund um den kleinen Kopf, und da,
wenn die schlanke Geschmeidige sich anmuthig und
leicht bewegte und das schöne Haupt senkte, dies
unwillkürlich die Vorstellung erregte, das Gewicht
des dunklen Haarbundes verursache das liebliche
Schwanken und Beugen, so rief sie von selbst
das Bild einer Blume hervor; aber noch froher
überraschte es, wenn sie sich unversehens frei
aufrichtete und die schwere Krone so leicht und
unbewußt trug, wie ein schlanker Hirsch sein
Geweih.

In ihr geistiges Leben war noch kein sicherer
Blick zu thun. Meist schien sie kindlicher zu sein,
als es ihrem Mädchenalter eigentlich zukam; ge¬
lernt hatte sie auch nicht viel und las nicht gern,
ausgenommen komische Erzählungen, wenn sie
deren habhaft werden konnte; aber sie mußten
gut, ja klassisch sein, und alsdann studirte sie die¬
selben sehr ernsthaft und verzog nicht den Mund.
Manchmal schien sie entschieden beschränkten Ver¬
standes und unbehülflich; sobald aber Ferdinand
da war, überfloß sie von klarem krystallenem Witze,
der noch in der Sonne der Kindheit funkelte, in¬

wuchtete rund um den kleinen Kopf, und da,
wenn die ſchlanke Geſchmeidige ſich anmuthig und
leicht bewegte und das ſchoͤne Haupt ſenkte, dies
unwillkuͤrlich die Vorſtellung erregte, das Gewicht
des dunklen Haarbundes verurſache das liebliche
Schwanken und Beugen, ſo rief ſie von ſelbſt
das Bild einer Blume hervor; aber noch froher
uͤberraſchte es, wenn ſie ſich unverſehens frei
aufrichtete und die ſchwere Krone ſo leicht und
unbewußt trug, wie ein ſchlanker Hirſch ſein
Geweih.

In ihr geiſtiges Leben war noch kein ſicherer
Blick zu thun. Meiſt ſchien ſie kindlicher zu ſein,
als es ihrem Maͤdchenalter eigentlich zukam; ge¬
lernt hatte ſie auch nicht viel und las nicht gern,
ausgenommen komiſche Erzaͤhlungen, wenn ſie
deren habhaft werden konnte; aber ſie mußten
gut, ja klaſſiſch ſein, und alsdann ſtudirte ſie die¬
ſelben ſehr ernſthaft und verzog nicht den Mund.
Manchmal ſchien ſie entſchieden beſchraͤnkten Ver¬
ſtandes und unbehuͤlflich; ſobald aber Ferdinand
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[220/0230] wuchtete rund um den kleinen Kopf, und da, wenn die ſchlanke Geſchmeidige ſich anmuthig und leicht bewegte und das ſchoͤne Haupt ſenkte, dies unwillkuͤrlich die Vorſtellung erregte, das Gewicht des dunklen Haarbundes verurſache das liebliche Schwanken und Beugen, ſo rief ſie von ſelbſt das Bild einer Blume hervor; aber noch froher uͤberraſchte es, wenn ſie ſich unverſehens frei aufrichtete und die ſchwere Krone ſo leicht und unbewußt trug, wie ein ſchlanker Hirſch ſein Geweih. In ihr geiſtiges Leben war noch kein ſicherer Blick zu thun. Meiſt ſchien ſie kindlicher zu ſein, als es ihrem Maͤdchenalter eigentlich zukam; ge¬ lernt hatte ſie auch nicht viel und las nicht gern, ausgenommen komiſche Erzaͤhlungen, wenn ſie deren habhaft werden konnte; aber ſie mußten gut, ja klaſſiſch ſein, und alsdann ſtudirte ſie die¬ ſelben ſehr ernſthaft und verzog nicht den Mund. Manchmal ſchien ſie entſchieden beſchraͤnkten Ver¬ ſtandes und unbehuͤlflich; ſobald aber Ferdinand da war, uͤberfloß ſie von klarem kryſtallenem Witze, der noch in der Sonne der Kindheit funkelte, in¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/230>, abgerufen am 25.11.2024.