nern. Eh' er nach Rom gegangen, war er ein stolzer und spröder Jüngling, der mit jugendlichem Ernste nach dem Ideale der alten herkömmlichen großen Historie strebte und von Zeit und Leben keine Erfahrung hatte. Italien, seine Luft und seine Frauen lehrten ihn, daß Form, Farbe und Glanz nicht nur für die Leinwand, sondern auch zum lebendigen Gebrauch gut und dienlich seien. Er wurde ein Realist und gewann von Tag zu Tag eine solche Kraft und Tiefe in der Empfin¬ dung des Lebens und des Menschlichen, daß die Ueberlieferungen seiner Jugend und Schülerzeit dagegen erbleichen mußten. Wohl drängte sich diese Kraft gleich in die Malerhand; aber indem er mit gewissenhaftem Fleiße sich in die Werke der Alten vertiefte, mußte er sich überzeugen, daß diese großen Realisten schon Alles gethan, was in unserem Jahrtausend vielleicht überhaupt er¬ reicht werden konnte, und daß wir einstweilen weder so erfinden und zeichnen werden, wie Ra¬ phael und Michel Angelo, noch so malen, wie die Venetianer. Und wenn wir es könnten, sagte er sich, so hätten wir keinen Gegenstand dafür. Wir
nern. Eh' er nach Rom gegangen, war er ein ſtolzer und ſproͤder Juͤngling, der mit jugendlichem Ernſte nach dem Ideale der alten herkoͤmmlichen großen Hiſtorie ſtrebte und von Zeit und Leben keine Erfahrung hatte. Italien, ſeine Luft und ſeine Frauen lehrten ihn, daß Form, Farbe und Glanz nicht nur fuͤr die Leinwand, ſondern auch zum lebendigen Gebrauch gut und dienlich ſeien. Er wurde ein Realiſt und gewann von Tag zu Tag eine ſolche Kraft und Tiefe in der Empfin¬ dung des Lebens und des Menſchlichen, daß die Ueberlieferungen ſeiner Jugend und Schuͤlerzeit dagegen erbleichen mußten. Wohl draͤngte ſich dieſe Kraft gleich in die Malerhand; aber indem er mit gewiſſenhaftem Fleiße ſich in die Werke der Alten vertiefte, mußte er ſich uͤberzeugen, daß dieſe großen Realiſten ſchon Alles gethan, was in unſerem Jahrtauſend vielleicht uͤberhaupt er¬ reicht werden konnte, und daß wir einſtweilen weder ſo erfinden und zeichnen werden, wie Ra¬ phael und Michel Angelo, noch ſo malen, wie die Venetianer. Und wenn wir es koͤnnten, ſagte er ſich, ſo haͤtten wir keinen Gegenſtand dafuͤr. Wir
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nern. Eh' er nach Rom gegangen, war er ein
ſtolzer und ſproͤder Juͤngling, der mit jugendlichem
Ernſte nach dem Ideale der alten herkoͤmmlichen
großen Hiſtorie ſtrebte und von Zeit und Leben
keine Erfahrung hatte. Italien, ſeine Luft und
ſeine Frauen lehrten ihn, daß Form, Farbe und
Glanz nicht nur fuͤr die Leinwand, ſondern auch
zum lebendigen Gebrauch gut und dienlich ſeien.
Er wurde ein Realiſt und gewann von Tag zu
Tag eine ſolche Kraft und Tiefe in der Empfin¬
dung des Lebens und des Menſchlichen, daß die
Ueberlieferungen ſeiner Jugend und Schuͤlerzeit
dagegen erbleichen mußten. Wohl draͤngte ſich
dieſe Kraft gleich in die Malerhand; aber indem
er mit gewiſſenhaftem Fleiße ſich in die Werke
der Alten vertiefte, mußte er ſich uͤberzeugen, daß
dieſe großen Realiſten ſchon Alles gethan, was
in unſerem Jahrtauſend vielleicht uͤberhaupt er¬
reicht werden konnte, und daß wir einſtweilen
weder ſo erfinden und zeichnen werden, wie Ra¬
phael und Michel Angelo, noch ſo malen, wie die
Venetianer. Und wenn wir es koͤnnten, ſagte er
ſich, ſo haͤtten wir keinen Gegenſtand dafuͤr. Wir
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/192>, abgerufen am 18.12.2024.
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