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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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wärtig geworden wärest; wozu wäre man da,
wenn man nicht die Menschen, wie sie sind, lieb
haben müßte?" Und sie drückte, da sie auf dem
Rande des Bettes und ich auf einer altmodisch
bemalten Kiste zu ihren Füßen saß, meinen Kopf
auf ihren Schoß und verband ihre Hände liebe¬
voll unter meinem Kinn.

Diese seltsame Aeußerung in Judith's Munde
machte mich tief betroffen und verursachte mir
ein langes Nachsinnen; je länger ich sann, desto
gewisser wurde es mir, daß Judith das Rechte
getroffen, und ich gelangte zu einem Schluß,
welcher, indem er zugleich zu einem Entschluß
wurde, nämlich das Bewußtsein des begangenen
Unrechtes nie mehr vergessen und immer in seiner
ganzen Frische tragen zu wollen, mir die einzig
mögliche Ausgleichung zu sein schien. Nur Einer
kann und soll verzeihen und vergessen, der von
Unrecht Betroffene selbst, der Thäter und alle
Anderen können es niemals, so lange eine innere
oder äußere Spur übrig bleibt. Dies kann man
am deutlichsten an den großen Beispielen der
Geschichte sehen. Die Tausende, welche Philipp

waͤrtig geworden waͤreſt; wozu waͤre man da,
wenn man nicht die Menſchen, wie ſie ſind, lieb
haben muͤßte?« Und ſie druͤckte, da ſie auf dem
Rande des Bettes und ich auf einer altmodiſch
bemalten Kiſte zu ihren Fuͤßen ſaß, meinen Kopf
auf ihren Schoß und verband ihre Haͤnde liebe¬
voll unter meinem Kinn.

Dieſe ſeltſame Aeußerung in Judith's Munde
machte mich tief betroffen und verurſachte mir
ein langes Nachſinnen; je laͤnger ich ſann, deſto
gewiſſer wurde es mir, daß Judith das Rechte
getroffen, und ich gelangte zu einem Schluß,
welcher, indem er zugleich zu einem Entſchluß
wurde, naͤmlich das Bewußtſein des begangenen
Unrechtes nie mehr vergeſſen und immer in ſeiner
ganzen Friſche tragen zu wollen, mir die einzig
moͤgliche Ausgleichung zu ſein ſchien. Nur Einer
kann und ſoll verzeihen und vergeſſen, der von
Unrecht Betroffene ſelbſt, der Thaͤter und alle
Anderen koͤnnen es niemals, ſo lange eine innere
oder aͤußere Spur uͤbrig bleibt. Dies kann man
am deutlichſten an den großen Beiſpielen der
Geſchichte ſehen. Die Tauſende, welche Philipp

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[117/0127] waͤrtig geworden waͤreſt; wozu waͤre man da, wenn man nicht die Menſchen, wie ſie ſind, lieb haben muͤßte?« Und ſie druͤckte, da ſie auf dem Rande des Bettes und ich auf einer altmodiſch bemalten Kiſte zu ihren Fuͤßen ſaß, meinen Kopf auf ihren Schoß und verband ihre Haͤnde liebe¬ voll unter meinem Kinn. Dieſe ſeltſame Aeußerung in Judith's Munde machte mich tief betroffen und verurſachte mir ein langes Nachſinnen; je laͤnger ich ſann, deſto gewiſſer wurde es mir, daß Judith das Rechte getroffen, und ich gelangte zu einem Schluß, welcher, indem er zugleich zu einem Entſchluß wurde, naͤmlich das Bewußtſein des begangenen Unrechtes nie mehr vergeſſen und immer in ſeiner ganzen Friſche tragen zu wollen, mir die einzig moͤgliche Ausgleichung zu ſein ſchien. Nur Einer kann und ſoll verzeihen und vergeſſen, der von Unrecht Betroffene ſelbſt, der Thaͤter und alle Anderen koͤnnen es niemals, ſo lange eine innere oder aͤußere Spur uͤbrig bleibt. Dies kann man am deutlichſten an den großen Beiſpielen der Geſchichte ſehen. Die Tauſende, welche Philipp

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/127>, abgerufen am 22.11.2024.