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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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war sehr verwundert, als ich anfing, meine Ge¬
schichten zu erzählen, erst die gewaltsame Störung,
welche ich heute in die stille Krankenstube ge¬
tragen, und dann die unglückliche Geschichte mit
Römer, deren ganzen Verlauf ich schilderte. Nach¬
dem ich meinen kunstreichen Mahnbrief und den
darauf erhaltenen Pariserbrief beschrieben, aus
dessen Inhalt wir wohl Römer's Schicksal ahnen
konnten, nur daß wir statt des Irrenhauses gar
ein Gefängniß vermutheten, rief Judith: "Das
ist ja ganz abscheulich! Schämst Du Dich denn
nicht, Du Knirps?" Und indem sie zornig auf
und niederging, malte sie recht genau aus, wie
Römer sich vielleicht erholt hätte, wenn man
ihm nicht die Mittel zu seinem ersten Aufenthalte
in Paris entzogen, wie ihn der Erhaltungstrieb
vielleicht, ja sicher eine Zeitlang hätte klug sein
lassen und hieraus unberechenbar eine bessere
Wendung auf diese oder jene Weise möglich ge¬
wesen. "O hätte ich den armen Mann pflegen
können," rief sie aus, "gewiß hätte ich ihn kurirt!
Ich hätte ihn ausgelacht und ihm geschmeichelt,
bis er klug geworden wäre!" Dann stand sie

war ſehr verwundert, als ich anfing, meine Ge¬
ſchichten zu erzaͤhlen, erſt die gewaltſame Stoͤrung,
welche ich heute in die ſtille Krankenſtube ge¬
tragen, und dann die ungluͤckliche Geſchichte mit
Roͤmer, deren ganzen Verlauf ich ſchilderte. Nach¬
dem ich meinen kunſtreichen Mahnbrief und den
darauf erhaltenen Pariſerbrief beſchrieben, aus
deſſen Inhalt wir wohl Roͤmer's Schickſal ahnen
konnten, nur daß wir ſtatt des Irrenhauſes gar
ein Gefaͤngniß vermutheten, rief Judith: »Das
iſt ja ganz abſcheulich! Schaͤmſt Du Dich denn
nicht, Du Knirps?« Und indem ſie zornig auf
und niederging, malte ſie recht genau aus, wie
Roͤmer ſich vielleicht erholt haͤtte, wenn man
ihm nicht die Mittel zu ſeinem erſten Aufenthalte
in Paris entzogen, wie ihn der Erhaltungstrieb
vielleicht, ja ſicher eine Zeitlang haͤtte klug ſein
laſſen und hieraus unberechenbar eine beſſere
Wendung auf dieſe oder jene Weiſe moͤglich ge¬
weſen. »O haͤtte ich den armen Mann pflegen
koͤnnen,« rief ſie aus, »gewiß haͤtte ich ihn kurirt!
Ich haͤtte ihn ausgelacht und ihm geſchmeichelt,
bis er klug geworden waͤre!« Dann ſtand ſie

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[114/0124] war ſehr verwundert, als ich anfing, meine Ge¬ ſchichten zu erzaͤhlen, erſt die gewaltſame Stoͤrung, welche ich heute in die ſtille Krankenſtube ge¬ tragen, und dann die ungluͤckliche Geſchichte mit Roͤmer, deren ganzen Verlauf ich ſchilderte. Nach¬ dem ich meinen kunſtreichen Mahnbrief und den darauf erhaltenen Pariſerbrief beſchrieben, aus deſſen Inhalt wir wohl Roͤmer's Schickſal ahnen konnten, nur daß wir ſtatt des Irrenhauſes gar ein Gefaͤngniß vermutheten, rief Judith: »Das iſt ja ganz abſcheulich! Schaͤmſt Du Dich denn nicht, Du Knirps?« Und indem ſie zornig auf und niederging, malte ſie recht genau aus, wie Roͤmer ſich vielleicht erholt haͤtte, wenn man ihm nicht die Mittel zu ſeinem erſten Aufenthalte in Paris entzogen, wie ihn der Erhaltungstrieb vielleicht, ja ſicher eine Zeitlang haͤtte klug ſein laſſen und hieraus unberechenbar eine beſſere Wendung auf dieſe oder jene Weiſe moͤglich ge¬ weſen. »O haͤtte ich den armen Mann pflegen koͤnnen,« rief ſie aus, »gewiß haͤtte ich ihn kurirt! Ich haͤtte ihn ausgelacht und ihm geſchmeichelt, bis er klug geworden waͤre!« Dann ſtand ſie

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/124>, abgerufen am 24.11.2024.