dunkel, bald schwankte ein aus den Wurzeln sprossendes Zweiglein im Lichte, ein Reflex ließ auf der dunkelsten Schattenseite eine neue mit Flechten bezogene Linie entdecken, bis Alles wie¬ der verschwand und neuen Erscheinungen Raum gab, während der Baum in seiner Größe immer gleich ruhig dastand und in seinem Innern ein geisterhaftes Flüstern vernehmen ließ. Aber ha¬ stig und blindlings zeichnete ich weiter, mich selbst betrügend, baute Lage auf Lage, mich ängstlich nur an die Partie haltend, welche ich gerade zeichnete, und gänzlich unfähig, sie in ein Ver¬ hältniß zum Ganzen zu bringen, abgesehen von der Formlosigkeit der einzelnen Striche. Die Ge¬ stalt auf meinem Papiere wuchs in's Ungeheuer¬ liche, besonders in die Breite und als ich an die Krone kam, fand ich keinen Raum mehr für sie und mußte sie, breit gezogen und niedrig, wie die Stirne eines Lumpen, auf den unförmlichen Klum¬ pen zwingen, daß der Rand des Bogens dicht am letzten Blatte stand, während der Fuß unten im Leeren taumelte. Wie ich aufsah und endlich das Ganze überflog, grinste ein lächerliches Zerr¬
dunkel, bald ſchwankte ein aus den Wurzeln ſproſſendes Zweiglein im Lichte, ein Reflex ließ auf der dunkelſten Schattenſeite eine neue mit Flechten bezogene Linie entdecken, bis Alles wie¬ der verſchwand und neuen Erſcheinungen Raum gab, waͤhrend der Baum in ſeiner Groͤße immer gleich ruhig daſtand und in ſeinem Innern ein geiſterhaftes Fluͤſtern vernehmen ließ. Aber ha¬ ſtig und blindlings zeichnete ich weiter, mich ſelbſt betruͤgend, baute Lage auf Lage, mich aͤngſtlich nur an die Partie haltend, welche ich gerade zeichnete, und gaͤnzlich unfaͤhig, ſie in ein Ver¬ haͤltniß zum Ganzen zu bringen, abgeſehen von der Formloſigkeit der einzelnen Striche. Die Ge¬ ſtalt auf meinem Papiere wuchs in's Ungeheuer¬ liche, beſonders in die Breite und als ich an die Krone kam, fand ich keinen Raum mehr fuͤr ſie und mußte ſie, breit gezogen und niedrig, wie die Stirne eines Lumpen, auf den unfoͤrmlichen Klum¬ pen zwingen, daß der Rand des Bogens dicht am letzten Blatte ſtand, waͤhrend der Fuß unten im Leeren taumelte. Wie ich aufſah und endlich das Ganze uͤberflog, grinſte ein laͤcherliches Zerr¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0055"n="45"/>
dunkel, bald ſchwankte ein aus den Wurzeln<lb/>ſproſſendes Zweiglein im Lichte, ein Reflex ließ<lb/>
auf der dunkelſten Schattenſeite eine neue mit<lb/>
Flechten bezogene Linie entdecken, bis Alles wie¬<lb/>
der verſchwand und neuen Erſcheinungen Raum<lb/>
gab, waͤhrend der Baum in ſeiner Groͤße immer<lb/>
gleich ruhig daſtand und in ſeinem Innern ein<lb/>
geiſterhaftes Fluͤſtern vernehmen ließ. Aber ha¬<lb/>ſtig und blindlings zeichnete ich weiter, mich ſelbſt<lb/>
betruͤgend, baute Lage auf Lage, mich aͤngſtlich<lb/>
nur an die Partie haltend, welche ich gerade<lb/>
zeichnete, und gaͤnzlich unfaͤhig, ſie in ein Ver¬<lb/>
haͤltniß zum Ganzen zu bringen, abgeſehen von<lb/>
der Formloſigkeit der einzelnen Striche. Die Ge¬<lb/>ſtalt auf meinem Papiere wuchs in's Ungeheuer¬<lb/>
liche, beſonders in die Breite und als ich an die<lb/>
Krone kam, fand ich keinen Raum mehr fuͤr ſie<lb/>
und mußte ſie, breit gezogen und niedrig, wie die<lb/>
Stirne eines Lumpen, auf den unfoͤrmlichen Klum¬<lb/>
pen zwingen, daß der Rand des Bogens dicht<lb/>
am letzten Blatte ſtand, waͤhrend der Fuß unten<lb/>
im Leeren taumelte. Wie ich aufſah und endlich<lb/>
das Ganze uͤberflog, grinſte ein laͤcherliches Zerr¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[45/0055]
dunkel, bald ſchwankte ein aus den Wurzeln
ſproſſendes Zweiglein im Lichte, ein Reflex ließ
auf der dunkelſten Schattenſeite eine neue mit
Flechten bezogene Linie entdecken, bis Alles wie¬
der verſchwand und neuen Erſcheinungen Raum
gab, waͤhrend der Baum in ſeiner Groͤße immer
gleich ruhig daſtand und in ſeinem Innern ein
geiſterhaftes Fluͤſtern vernehmen ließ. Aber ha¬
ſtig und blindlings zeichnete ich weiter, mich ſelbſt
betruͤgend, baute Lage auf Lage, mich aͤngſtlich
nur an die Partie haltend, welche ich gerade
zeichnete, und gaͤnzlich unfaͤhig, ſie in ein Ver¬
haͤltniß zum Ganzen zu bringen, abgeſehen von
der Formloſigkeit der einzelnen Striche. Die Ge¬
ſtalt auf meinem Papiere wuchs in's Ungeheuer¬
liche, beſonders in die Breite und als ich an die
Krone kam, fand ich keinen Raum mehr fuͤr ſie
und mußte ſie, breit gezogen und niedrig, wie die
Stirne eines Lumpen, auf den unfoͤrmlichen Klum¬
pen zwingen, daß der Rand des Bogens dicht
am letzten Blatte ſtand, waͤhrend der Fuß unten
im Leeren taumelte. Wie ich aufſah und endlich
das Ganze uͤberflog, grinſte ein laͤcherliches Zerr¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/55>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.