Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

terleuchtete sogar und in der Ferne donnerte es,
daß es klang, als wäre es Mai oder Juni; um Ju¬
dith kirre zu machen, sangen die Männer mit heuch¬
lerischer Sorgfalt ein vierstimmiges Lied, so schön
sie konnten, und ihr überwachter Zustand gab
ihren Stimmen wirklich etwas gerührt Vibriren¬
des. Als dies Alles nichts half, fingen sie an
zu fluchen, und Einer kletterte am Spalier zum
Fenster empor, um in die dunkle Stube zu sehen.
Wir bemerkten wohl seine spitzige Kapuze, die
er über den Kopf gezogen hatte; da erhellte mit
einem Mal ein Blitz die Stube, und der Spä¬
her konnte Judith ihres weißen Zeuges wegen
erkennen. "Die verwünschte Hexe sitzt ganz auf¬
recht und munter am Tisch!" rief er gedämpft
hinunter; ein Anderer sagte: "Laß mich einmal
sehen!" Doch während sie sich ablösten und die
Stube wieder finster war, huschte Judith schnell
zu ihrem Bett, nahm die weiße Decke desselben
und warf sie über den Stuhl, worauf sie mich
leis nach dem Bett hinzog, welches man vom
Fenster aus nicht sehen konnte. Als jetzt ein
zweiter, noch stärkerer Blitz die Stube ganz klar

terleuchtete ſogar und in der Ferne donnerte es,
daß es klang, als waͤre es Mai oder Juni; um Ju¬
dith kirre zu machen, ſangen die Maͤnner mit heuch¬
leriſcher Sorgfalt ein vierſtimmiges Lied, ſo ſchoͤn
ſie konnten, und ihr uͤberwachter Zuſtand gab
ihren Stimmen wirklich etwas geruͤhrt Vibriren¬
des. Als dies Alles nichts half, fingen ſie an
zu fluchen, und Einer kletterte am Spalier zum
Fenſter empor, um in die dunkle Stube zu ſehen.
Wir bemerkten wohl ſeine ſpitzige Kapuze, die
er uͤber den Kopf gezogen hatte; da erhellte mit
einem Mal ein Blitz die Stube, und der Spaͤ¬
her konnte Judith ihres weißen Zeuges wegen
erkennen. »Die verwuͤnſchte Hexe ſitzt ganz auf¬
recht und munter am Tiſch!« rief er gedaͤmpft
hinunter; ein Anderer ſagte: »Laß mich einmal
ſehen!« Doch waͤhrend ſie ſich abloͤſten und die
Stube wieder finſter war, huſchte Judith ſchnell
zu ihrem Bett, nahm die weiße Decke deſſelben
und warf ſie uͤber den Stuhl, worauf ſie mich
leis nach dem Bett hinzog, welches man vom
Fenſter aus nicht ſehen konnte. Als jetzt ein
zweiter, noch ſtaͤrkerer Blitz die Stube ganz klar

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0457" n="447"/>
terleuchtete &#x017F;ogar und in der Ferne donnerte es,<lb/>
daß es klang, als wa&#x0364;re es Mai oder Juni; um Ju¬<lb/>
dith kirre zu machen, &#x017F;angen die Ma&#x0364;nner mit heuch¬<lb/>
leri&#x017F;cher Sorgfalt ein vier&#x017F;timmiges Lied, &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;n<lb/>
&#x017F;ie konnten, und ihr u&#x0364;berwachter Zu&#x017F;tand gab<lb/>
ihren Stimmen wirklich etwas geru&#x0364;hrt Vibriren¬<lb/>
des. Als dies Alles nichts half, fingen &#x017F;ie an<lb/>
zu fluchen, und Einer kletterte am Spalier zum<lb/>
Fen&#x017F;ter empor, um in die dunkle Stube zu &#x017F;ehen.<lb/>
Wir bemerkten wohl &#x017F;eine &#x017F;pitzige Kapuze, die<lb/>
er u&#x0364;ber den Kopf gezogen hatte; da erhellte mit<lb/>
einem Mal ein Blitz die Stube, und der Spa&#x0364;¬<lb/>
her konnte Judith ihres weißen Zeuges wegen<lb/>
erkennen. »Die verwu&#x0364;n&#x017F;chte Hexe &#x017F;itzt ganz auf¬<lb/>
recht und munter am Ti&#x017F;ch!« rief er geda&#x0364;mpft<lb/>
hinunter; ein Anderer &#x017F;agte: »Laß mich einmal<lb/>
&#x017F;ehen!« Doch wa&#x0364;hrend &#x017F;ie &#x017F;ich ablo&#x0364;&#x017F;ten und die<lb/>
Stube wieder fin&#x017F;ter war, hu&#x017F;chte Judith &#x017F;chnell<lb/>
zu ihrem Bett, nahm die weiße Decke de&#x017F;&#x017F;elben<lb/>
und warf &#x017F;ie u&#x0364;ber den Stuhl, worauf &#x017F;ie mich<lb/>
leis nach dem Bett hinzog, welches man vom<lb/>
Fen&#x017F;ter aus nicht &#x017F;ehen konnte. Als jetzt ein<lb/>
zweiter, noch &#x017F;ta&#x0364;rkerer Blitz die Stube ganz klar<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[447/0457] terleuchtete ſogar und in der Ferne donnerte es, daß es klang, als waͤre es Mai oder Juni; um Ju¬ dith kirre zu machen, ſangen die Maͤnner mit heuch¬ leriſcher Sorgfalt ein vierſtimmiges Lied, ſo ſchoͤn ſie konnten, und ihr uͤberwachter Zuſtand gab ihren Stimmen wirklich etwas geruͤhrt Vibriren¬ des. Als dies Alles nichts half, fingen ſie an zu fluchen, und Einer kletterte am Spalier zum Fenſter empor, um in die dunkle Stube zu ſehen. Wir bemerkten wohl ſeine ſpitzige Kapuze, die er uͤber den Kopf gezogen hatte; da erhellte mit einem Mal ein Blitz die Stube, und der Spaͤ¬ her konnte Judith ihres weißen Zeuges wegen erkennen. »Die verwuͤnſchte Hexe ſitzt ganz auf¬ recht und munter am Tiſch!« rief er gedaͤmpft hinunter; ein Anderer ſagte: »Laß mich einmal ſehen!« Doch waͤhrend ſie ſich abloͤſten und die Stube wieder finſter war, huſchte Judith ſchnell zu ihrem Bett, nahm die weiße Decke deſſelben und warf ſie uͤber den Stuhl, worauf ſie mich leis nach dem Bett hinzog, welches man vom Fenſter aus nicht ſehen konnte. Als jetzt ein zweiter, noch ſtaͤrkerer Blitz die Stube ganz klar

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/457
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/457>, abgerufen am 28.11.2024.