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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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auch bewegte sich Judith so sicher und frei, daß
diese Sicherheit auch auf mich überging. Sie
trug den fertigen Kaffee in die Stube, setzte sich
neben mich und indem sie das herbeigeholte Kir¬
chenbuch aufschlug, sagte sie: "Seht, ich habe
alle die Bildchen noch, die ihr mir gezeichnet
habt!" Wir betrachteten die komischen Dinger,
eins um's andere, und die unsicheren Striche von
damals kamen mir höchst seltsam vor, wie ver¬
gessene Zeichen einer unabsehbar entschwundenen
Zeit. Ich erstaunte vor diesen Abgründen der
Vergessenheit, die zwischen den kurzen Jugend¬
jahren liegen, und betrachtete die Blättchen sehr
nachdenklich; auch die Handschrift, womit ich die
Sprüche hineingeschrieben, war eine ganz andere
und noch diejenige aus der Schule. Die ängst¬
lichen Züge sahen mich traurig an; Judith sah
auch eine Zeitlang still auf das gleiche Bildchen
mit mir, dann sah sie mir plötzlich dicht in die
Augen, indem sie ihre Arme um meinen Hals
legte, und sagte: "Du bist immer noch der
Gleiche! An was denkst du jetzt?" -- "Ich weiß
nicht," erwiederte ich; "weißt du, fuhr sie fort,

auch bewegte ſich Judith ſo ſicher und frei, daß
dieſe Sicherheit auch auf mich uͤberging. Sie
trug den fertigen Kaffee in die Stube, ſetzte ſich
neben mich und indem ſie das herbeigeholte Kir¬
chenbuch aufſchlug, ſagte ſie: »Seht, ich habe
alle die Bildchen noch, die ihr mir gezeichnet
habt!« Wir betrachteten die komiſchen Dinger,
eins um's andere, und die unſicheren Striche von
damals kamen mir hoͤchſt ſeltſam vor, wie ver¬
geſſene Zeichen einer unabſehbar entſchwundenen
Zeit. Ich erſtaunte vor dieſen Abgruͤnden der
Vergeſſenheit, die zwiſchen den kurzen Jugend¬
jahren liegen, und betrachtete die Blaͤttchen ſehr
nachdenklich; auch die Handſchrift, womit ich die
Spruͤche hineingeſchrieben, war eine ganz andere
und noch diejenige aus der Schule. Die aͤngſt¬
lichen Zuͤge ſahen mich traurig an; Judith ſah
auch eine Zeitlang ſtill auf das gleiche Bildchen
mit mir, dann ſah ſie mir ploͤtzlich dicht in die
Augen, indem ſie ihre Arme um meinen Hals
legte, und ſagte: »Du biſt immer noch der
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[443/0453] auch bewegte ſich Judith ſo ſicher und frei, daß dieſe Sicherheit auch auf mich uͤberging. Sie trug den fertigen Kaffee in die Stube, ſetzte ſich neben mich und indem ſie das herbeigeholte Kir¬ chenbuch aufſchlug, ſagte ſie: »Seht, ich habe alle die Bildchen noch, die ihr mir gezeichnet habt!« Wir betrachteten die komiſchen Dinger, eins um's andere, und die unſicheren Striche von damals kamen mir hoͤchſt ſeltſam vor, wie ver¬ geſſene Zeichen einer unabſehbar entſchwundenen Zeit. Ich erſtaunte vor dieſen Abgruͤnden der Vergeſſenheit, die zwiſchen den kurzen Jugend¬ jahren liegen, und betrachtete die Blaͤttchen ſehr nachdenklich; auch die Handſchrift, womit ich die Spruͤche hineingeſchrieben, war eine ganz andere und noch diejenige aus der Schule. Die aͤngſt¬ lichen Zuͤge ſahen mich traurig an; Judith ſah auch eine Zeitlang ſtill auf das gleiche Bildchen mit mir, dann ſah ſie mir ploͤtzlich dicht in die Augen, indem ſie ihre Arme um meinen Hals legte, und ſagte: »Du biſt immer noch der Gleiche! An was denkſt du jetzt?« — »Ich weiß nicht,« erwiederte ich; »weißt du, fuhr ſie fort,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/453>, abgerufen am 27.11.2024.