pflege und ich daher schicklicher Weise nicht allein sie besuchen könne. "Ach was!" sagte sie, "ihr seid ja auch noch mein Vetter und könnt mich von Rechtswegen wohl heimsuchen, wenn ihr wollt! Damals, wo ihr so jung gewesen, habt ihr mich so gern gehabt und ihr seid mir immer ein wenig lieb; aber jetzt habt ihr ein Schätzchen, in welches ihr verliebt seid, und meint, keine an¬ dere Frau mehr ansehen zu dürfen!" -- "Ich ein Schätzchen?" erwiederte ich und als sie diese Be¬ hauptung wiederholte und Anna nannte, läugnete ich die Sache auf das Bestimmteste. Wir wa¬ ren unversehens beim Dorfe angekommen, in welchem noch viele Stimmen laut wurden und die jungen Leute über die Straße gingen; Judith wünschte ihnen aus dem Wege zu gehen, und ob¬ gleich ich nun füglich meine Straße hätte ziehen können, leistete ich doch keinen Widerstand und folgte ihr unwillkürlich, als sie mich bei der Hand nahm und zwischen Hecken und Mauern durch ein dunkles Wirrsal führte, um ungesehen in ihr Haus zu gelangen. Sie hatte ihre Aecker verkauft und nur einen schönen Baumgarten
pflege und ich daher ſchicklicher Weiſe nicht allein ſie beſuchen koͤnne. »Ach was!« ſagte ſie, »ihr ſeid ja auch noch mein Vetter und koͤnnt mich von Rechtswegen wohl heimſuchen, wenn ihr wollt! Damals, wo ihr ſo jung geweſen, habt ihr mich ſo gern gehabt und ihr ſeid mir immer ein wenig lieb; aber jetzt habt ihr ein Schaͤtzchen, in welches ihr verliebt ſeid, und meint, keine an¬ dere Frau mehr anſehen zu duͤrfen!« — »Ich ein Schaͤtzchen?« erwiederte ich und als ſie dieſe Be¬ hauptung wiederholte und Anna nannte, laͤugnete ich die Sache auf das Beſtimmteſte. Wir wa¬ ren unverſehens beim Dorfe angekommen, in welchem noch viele Stimmen laut wurden und die jungen Leute uͤber die Straße gingen; Judith wuͤnſchte ihnen aus dem Wege zu gehen, und ob¬ gleich ich nun fuͤglich meine Straße haͤtte ziehen koͤnnen, leiſtete ich doch keinen Widerſtand und folgte ihr unwillkuͤrlich, als ſie mich bei der Hand nahm und zwiſchen Hecken und Mauern durch ein dunkles Wirrſal fuͤhrte, um ungeſehen in ihr Haus zu gelangen. Sie hatte ihre Aecker verkauft und nur einen ſchoͤnen Baumgarten
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pflege und ich daher ſchicklicher Weiſe nicht allein
ſie beſuchen koͤnne. »Ach was!« ſagte ſie, »ihr ſeid
ja auch noch mein Vetter und koͤnnt mich von
Rechtswegen wohl heimſuchen, wenn ihr wollt!
Damals, wo ihr ſo jung geweſen, habt ihr
mich ſo gern gehabt und ihr ſeid mir immer ein
wenig lieb; aber jetzt habt ihr ein Schaͤtzchen,
in welches ihr verliebt ſeid, und meint, keine an¬
dere Frau mehr anſehen zu duͤrfen!« — »Ich ein
Schaͤtzchen?« erwiederte ich und als ſie dieſe Be¬
hauptung wiederholte und Anna nannte, laͤugnete
ich die Sache auf das Beſtimmteſte. Wir wa¬
ren unverſehens beim Dorfe angekommen, in
welchem noch viele Stimmen laut wurden und
die jungen Leute uͤber die Straße gingen; Judith
wuͤnſchte ihnen aus dem Wege zu gehen, und ob¬
gleich ich nun fuͤglich meine Straße haͤtte ziehen
koͤnnen, leiſtete ich doch keinen Widerſtand und
folgte ihr unwillkuͤrlich, als ſie mich bei der
Hand nahm und zwiſchen Hecken und Mauern
durch ein dunkles Wirrſal fuͤhrte, um ungeſehen
in ihr Haus zu gelangen. Sie hatte ihre Aecker
verkauft und nur einen ſchoͤnen Baumgarten
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/450>, abgerufen am 23.11.2024.
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