meine Arme immer noch um sie geschlungen und wagte sie weder loszulassen, noch fester an mich zu ziehen. Mich dünkte, ich müßte sie in eine grundlose Tiefe fallen lassen, wenn ich sie los ließe, und tödten, wenn ich sie ferner gefangen hielt; eine große Angst und Traurigkeit senkte sich aus unsere kindischen Herzen. Endlich wur¬ den mir die Arme locker und fielen auseinander, beschämt und niedergeschlagen standen wir da und blickten auf den Boden. Dann setzte sich Anna auf einen Stein, dicht an dem klaren tiefen Was¬ ser und fing bitterlich an zu weinen. Erst als ich dies sah, konnte ich mich wieder mit ihr be¬ schäftigen, so sehr war ich in meine eigene Verwirrung und in die eisige Kälte versunken, die uns überfallen hatte. Ich näherte mich dem schönen, trauernden Mädchen und suchte eine Hand zu fassen, indem ich zaghaft ihren Namen nannte. Aber sie hüllte ihr Gesicht fest in die Falten des langen grünen Kleides, fortwährend reichliche Thränen vergießend. Endlich erholte sie sich ein wenig und sagte bloß: "O es war so schön! wir waren so glücklich bis jetzt!" Ich glaubte sie zu
meine Arme immer noch um ſie geſchlungen und wagte ſie weder loszulaſſen, noch feſter an mich zu ziehen. Mich duͤnkte, ich muͤßte ſie in eine grundloſe Tiefe fallen laſſen, wenn ich ſie los ließe, und toͤdten, wenn ich ſie ferner gefangen hielt; eine große Angſt und Traurigkeit ſenkte ſich aus unſere kindiſchen Herzen. Endlich wur¬ den mir die Arme locker und fielen auseinander, beſchaͤmt und niedergeſchlagen ſtanden wir da und blickten auf den Boden. Dann ſetzte ſich Anna auf einen Stein, dicht an dem klaren tiefen Waſ¬ ſer und fing bitterlich an zu weinen. Erſt als ich dies ſah, konnte ich mich wieder mit ihr be¬ ſchaͤftigen, ſo ſehr war ich in meine eigene Verwirrung und in die eiſige Kaͤlte verſunken, die uns uͤberfallen hatte. Ich naͤherte mich dem ſchoͤnen, trauernden Maͤdchen und ſuchte eine Hand zu faſſen, indem ich zaghaft ihren Namen nannte. Aber ſie huͤllte ihr Geſicht feſt in die Falten des langen gruͤnen Kleides, fortwaͤhrend reichliche Thraͤnen vergießend. Endlich erholte ſie ſich ein wenig und ſagte bloß: »O es war ſo ſchoͤn! wir waren ſo gluͤcklich bis jetzt!« Ich glaubte ſie zu
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meine Arme immer noch um ſie geſchlungen und
wagte ſie weder loszulaſſen, noch feſter an mich
zu ziehen. Mich duͤnkte, ich muͤßte ſie in eine
grundloſe Tiefe fallen laſſen, wenn ich ſie los
ließe, und toͤdten, wenn ich ſie ferner gefangen
hielt; eine große Angſt und Traurigkeit ſenkte
ſich aus unſere kindiſchen Herzen. Endlich wur¬
den mir die Arme locker und fielen auseinander,
beſchaͤmt und niedergeſchlagen ſtanden wir da und
blickten auf den Boden. Dann ſetzte ſich Anna
auf einen Stein, dicht an dem klaren tiefen Waſ¬
ſer und fing bitterlich an zu weinen. Erſt als
ich dies ſah, konnte ich mich wieder mit ihr be¬
ſchaͤftigen, ſo ſehr war ich in meine eigene
Verwirrung und in die eiſige Kaͤlte verſunken,
die uns uͤberfallen hatte. Ich naͤherte mich dem
ſchoͤnen, trauernden Maͤdchen und ſuchte eine Hand
zu faſſen, indem ich zaghaft ihren Namen nannte.
Aber ſie huͤllte ihr Geſicht feſt in die Falten des
langen gruͤnen Kleides, fortwaͤhrend reichliche
Thraͤnen vergießend. Endlich erholte ſie ſich ein
wenig und ſagte bloß: »O es war ſo ſchoͤn! wir
waren ſo gluͤcklich bis jetzt!« Ich glaubte ſie zu
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/422>, abgerufen am 23.11.2024.
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