Macht ich gegenüberstand. Anna war gegen Alle gleich freundlich, so unbefangen und offen, wie ich sie gar nie gesehen und am wenigsten gegen mich; aber obgleich mich gerade das hätte beruhigen sollen und ich überdies die ungewöhn¬ lich edle Denkart des Schulmeisters kannte, so wurde es mir doch ganz heiß und ich beschul¬ digte sogleich die Weiber, daß sie unter dem Vor¬ wande der Selbstverläugnung und des kindlichen Gehorsams es doch immer vorzögen, wenn auch unter heuchlerischen Thränen, sich unvermerkt da¬ hin zu salviren, wo guter Rath und Wohlstand wäre, und wenn sie eine Ausnahme machten, so geschähe das weniger aus Liebe, als aus Eigen¬ sinn, welcher sich auch in Uebertreibung und Un¬ geberdigkeit alsobald kund gebe! Doch kam mir kein Gedanke an einen besonderen Vorwurf ge¬ gen Anna, weil mir Alles achtungswerth und nothwendig schien, was sie that oder je thun würde, und ich entschuldigte sie sogar im Voraus, wenn sie etwa in den Fall gerathen sollte, nach dem Willen ihres Vaters einem Angesehenen und Reichen ihre Hand zu geben. Auch achtete ich
Macht ich gegenuͤberſtand. Anna war gegen Alle gleich freundlich, ſo unbefangen und offen, wie ich ſie gar nie geſehen und am wenigſten gegen mich; aber obgleich mich gerade das haͤtte beruhigen ſollen und ich uͤberdies die ungewoͤhn¬ lich edle Denkart des Schulmeiſters kannte, ſo wurde es mir doch ganz heiß und ich beſchul¬ digte ſogleich die Weiber, daß ſie unter dem Vor¬ wande der Selbſtverlaͤugnung und des kindlichen Gehorſams es doch immer vorzoͤgen, wenn auch unter heuchleriſchen Thraͤnen, ſich unvermerkt da¬ hin zu ſalviren, wo guter Rath und Wohlſtand waͤre, und wenn ſie eine Ausnahme machten, ſo geſchaͤhe das weniger aus Liebe, als aus Eigen¬ ſinn, welcher ſich auch in Uebertreibung und Un¬ geberdigkeit alſobald kund gebe! Doch kam mir kein Gedanke an einen beſonderen Vorwurf ge¬ gen Anna, weil mir Alles achtungswerth und nothwendig ſchien, was ſie that oder je thun wuͤrde, und ich entſchuldigte ſie ſogar im Voraus, wenn ſie etwa in den Fall gerathen ſollte, nach dem Willen ihres Vaters einem Angeſehenen und Reichen ihre Hand zu geben. Auch achtete ich
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Macht ich gegenuͤberſtand. Anna war gegen
Alle gleich freundlich, ſo unbefangen und offen,
wie ich ſie gar nie geſehen und am wenigſten
gegen mich; aber obgleich mich gerade das haͤtte
beruhigen ſollen und ich uͤberdies die ungewoͤhn¬
lich edle Denkart des Schulmeiſters kannte, ſo
wurde es mir doch ganz heiß und ich beſchul¬
digte ſogleich die Weiber, daß ſie unter dem Vor¬
wande der Selbſtverlaͤugnung und des kindlichen
Gehorſams es doch immer vorzoͤgen, wenn auch
unter heuchleriſchen Thraͤnen, ſich unvermerkt da¬
hin zu ſalviren, wo guter Rath und Wohlſtand
waͤre, und wenn ſie eine Ausnahme machten, ſo
geſchaͤhe das weniger aus Liebe, als aus Eigen¬
ſinn, welcher ſich auch in Uebertreibung und Un¬
geberdigkeit alſobald kund gebe! Doch kam mir
kein Gedanke an einen beſonderen Vorwurf ge¬
gen Anna, weil mir Alles achtungswerth und
nothwendig ſchien, was ſie that oder je thun
wuͤrde, und ich entſchuldigte ſie ſogar im Voraus,
wenn ſie etwa in den Fall gerathen ſollte, nach
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/382>, abgerufen am 23.11.2024.
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