geliebter sichrer Führer und Bürge. Ich aber stand nun auf einem anderen Boden und fühlte wohl, daß ich bei aller Ehrerbietung für den Reforma¬ tor und Helden doch nicht Eines Glaubens mit meinem Vater sein würde, während ich seiner vollkommenen Duldsamkeit und Achtung für die Unabhängigkeit meiner Ueberzeugung gewiß war. Dieses friedliche und achtungsvolle Ausscheiden in Glaubenssachen zwischen Vater und Sohn feierte ich nun in dem Kirchenstuhle, indem ich mir den Vater noch lebend vorstellte und ein geisti¬ ges Gespräch mit ihm führte, und als die Ge¬ meinde sein ehemaliges Lieblings- und Weih¬ nachtslied: "Dies ist der Tag, den Gott gemacht!" anstimmte, sang ich es für meinen Vater laut und froh mit, obgleich ich Mühe hatte, den rich¬ tigen Ton zu halten; denn rechts stand ein alter Kupferschmied, links ein gebrechlicher Chorherr, welche mich mit den wunderbarsten Variationen von der rechten Bahn zu locken suchten und dies um so lauter und kühner, je standhafter ich blieb. Dann hörte ich aufmerksam auf die Predigt, kri¬ tisirte sie und fand sie gar nicht übel; je näher
geliebter ſichrer Fuͤhrer und Buͤrge. Ich aber ſtand nun auf einem anderen Boden und fuͤhlte wohl, daß ich bei aller Ehrerbietung fuͤr den Reforma¬ tor und Helden doch nicht Eines Glaubens mit meinem Vater ſein wuͤrde, waͤhrend ich ſeiner vollkommenen Duldſamkeit und Achtung fuͤr die Unabhaͤngigkeit meiner Ueberzeugung gewiß war. Dieſes friedliche und achtungsvolle Ausſcheiden in Glaubensſachen zwiſchen Vater und Sohn feierte ich nun in dem Kirchenſtuhle, indem ich mir den Vater noch lebend vorſtellte und ein geiſti¬ ges Geſpraͤch mit ihm fuͤhrte, und als die Ge¬ meinde ſein ehemaliges Lieblings- und Weih¬ nachtslied: »Dies iſt der Tag, den Gott gemacht!« anſtimmte, ſang ich es fuͤr meinen Vater laut und froh mit, obgleich ich Muͤhe hatte, den rich¬ tigen Ton zu halten; denn rechts ſtand ein alter Kupferſchmied, links ein gebrechlicher Chorherr, welche mich mit den wunderbarſten Variationen von der rechten Bahn zu locken ſuchten und dies um ſo lauter und kuͤhner, je ſtandhafter ich blieb. Dann hoͤrte ich aufmerkſam auf die Predigt, kri¬ tiſirte ſie und fand ſie gar nicht uͤbel; je naͤher
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geliebter ſichrer Fuͤhrer und Buͤrge. Ich aber ſtand
nun auf einem anderen Boden und fuͤhlte wohl,
daß ich bei aller Ehrerbietung fuͤr den Reforma¬
tor und Helden doch nicht Eines Glaubens mit
meinem Vater ſein wuͤrde, waͤhrend ich ſeiner
vollkommenen Duldſamkeit und Achtung fuͤr die
Unabhaͤngigkeit meiner Ueberzeugung gewiß war.
Dieſes friedliche und achtungsvolle Ausſcheiden
in Glaubensſachen zwiſchen Vater und Sohn
feierte ich nun in dem Kirchenſtuhle, indem ich mir
den Vater noch lebend vorſtellte und ein geiſti¬
ges Geſpraͤch mit ihm fuͤhrte, und als die Ge¬
meinde ſein ehemaliges Lieblings- und Weih¬
nachtslied: »Dies iſt der Tag, den Gott gemacht!«
anſtimmte, ſang ich es fuͤr meinen Vater laut
und froh mit, obgleich ich Muͤhe hatte, den rich¬
tigen Ton zu halten; denn rechts ſtand ein alter
Kupferſchmied, links ein gebrechlicher Chorherr,
welche mich mit den wunderbarſten Variationen
von der rechten Bahn zu locken ſuchten und dies
um ſo lauter und kuͤhner, je ſtandhafter ich blieb.
Dann hoͤrte ich aufmerkſam auf die Predigt, kri¬
tiſirte ſie und fand ſie gar nicht uͤbel; je naͤher
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/340>, abgerufen am 27.11.2024.
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