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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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schwinden, suchten ihn überall, traten an den
Rand des Abgrundes, aber Niemand hat ihn wie¬
der gesehen.

Dies krankhafte Beispiel von den wunderba¬
ren Gängen, welche die Entstehung des "Glau¬
bens" in den Menschen verfolgt, mag nun frei¬
lich sehr vereinzelt dastehen; doch wenn sie auch
bei der Mehrzahl einen edleren Grund und Bo¬
den hat, so werden ihre Schneckenlinien doch nicht
grad. Ich würde mich schämen, wenn ich je¬
mals dahin kommen würde, Jemanden seines
Glaubens wegen zu verachten oder zu verhöhnen,
oder den Gegenstand desselben nicht zu ehren,
wenn der Gläubige darin seinen Trost findet;
aber die nackte und gewaltsame Forderung des
Glaubens, so zu sagen die Theorie des Glau¬
bens selbst, ist eine so mißliche Sache für mich,
daß ich, indem ich diese meine geheime Schrei¬
berei übersehe, mein Herz durch die lange Kund¬
gebung gegen den Glauben beinahe so stau¬
big, trocken und unangenehm fühle, als wenn
ich ein ehrbarer Theologe wäre und für den
Glauben polemisirt hätte, und ich muß mich be¬

ſchwinden, ſuchten ihn uͤberall, traten an den
Rand des Abgrundes, aber Niemand hat ihn wie¬
der geſehen.

Dies krankhafte Beiſpiel von den wunderba¬
ren Gaͤngen, welche die Entſtehung des »Glau¬
bens« in den Menſchen verfolgt, mag nun frei¬
lich ſehr vereinzelt daſtehen; doch wenn ſie auch
bei der Mehrzahl einen edleren Grund und Bo¬
den hat, ſo werden ihre Schneckenlinien doch nicht
grad. Ich wuͤrde mich ſchaͤmen, wenn ich je¬
mals dahin kommen wuͤrde, Jemanden ſeines
Glaubens wegen zu verachten oder zu verhoͤhnen,
oder den Gegenſtand deſſelben nicht zu ehren,
wenn der Glaͤubige darin ſeinen Troſt findet;
aber die nackte und gewaltſame Forderung des
Glaubens, ſo zu ſagen die Theorie des Glau¬
bens ſelbſt, iſt eine ſo mißliche Sache fuͤr mich,
daß ich, indem ich dieſe meine geheime Schrei¬
berei uͤberſehe, mein Herz durch die lange Kund¬
gebung gegen den Glauben beinahe ſo ſtau¬
big, trocken und unangenehm fuͤhle, als wenn
ich ein ehrbarer Theologe waͤre und fuͤr den
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[316/0326] ſchwinden, ſuchten ihn uͤberall, traten an den Rand des Abgrundes, aber Niemand hat ihn wie¬ der geſehen. Dies krankhafte Beiſpiel von den wunderba¬ ren Gaͤngen, welche die Entſtehung des »Glau¬ bens« in den Menſchen verfolgt, mag nun frei¬ lich ſehr vereinzelt daſtehen; doch wenn ſie auch bei der Mehrzahl einen edleren Grund und Bo¬ den hat, ſo werden ihre Schneckenlinien doch nicht grad. Ich wuͤrde mich ſchaͤmen, wenn ich je¬ mals dahin kommen wuͤrde, Jemanden ſeines Glaubens wegen zu verachten oder zu verhoͤhnen, oder den Gegenſtand deſſelben nicht zu ehren, wenn der Glaͤubige darin ſeinen Troſt findet; aber die nackte und gewaltſame Forderung des Glaubens, ſo zu ſagen die Theorie des Glau¬ bens ſelbſt, iſt eine ſo mißliche Sache fuͤr mich, daß ich, indem ich dieſe meine geheime Schrei¬ berei uͤberſehe, mein Herz durch die lange Kund¬ gebung gegen den Glauben beinahe ſo ſtau¬ big, trocken und unangenehm fuͤhle, als wenn ich ein ehrbarer Theologe waͤre und fuͤr den Glauben polemiſirt haͤtte, und ich muß mich be¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/326>, abgerufen am 26.11.2024.