hört, für sich selber das Bekenntniß der Sünden professionsmäßig betreiben, verwandelt jene natür¬ liche und unbefangene Selbsterkenntniß mit Einem Schlage in ein manierirtes Zopfthum, aus welchem mich eine unsägliche frostige Nüchternheit und Schlaffheit anweht. Daher gedeiht diese Lehre am besten bei den entnervten und erschöpften Seelen; denn die Manierirtheit ist der Ceremonien¬ meister des Unvermögens auf jedem Gebiete, und sie ist es, welche die frischen Geister von jedem Gebiete wegscheucht, wo sie sich breit macht.
Nach der Lehre von der Sünde kam gleich die Lehre vom Glauben, als der Erlösung von jener, und auf sie ward eigentlich das Haupt¬ gewicht des ganzen Unterrichtes gelegt; trotz aller Beifügungen, wie daß auch gute Werke vonnöthen seien, blieb der Schlußgesang doch immer und allein: Der Glaube macht selig! und dies uns einleuchtend zu machen als herangewachsenen jun¬ gen Leuten, wandte der geistliche Mann die mög¬ lichst annehmliche und vernünftig scheinende Be¬ redtsamkeit auf. Wenn ich auf den höchsten Berg laufe und den Himmel abzähle, Stern für Stern,
hoͤrt, fuͤr ſich ſelber das Bekenntniß der Suͤnden profeſſionsmaͤßig betreiben, verwandelt jene natuͤr¬ liche und unbefangene Selbſterkenntniß mit Einem Schlage in ein manierirtes Zopfthum, aus welchem mich eine unſaͤgliche froſtige Nuͤchternheit und Schlaffheit anweht. Daher gedeiht dieſe Lehre am beſten bei den entnervten und erſchoͤpften Seelen; denn die Manierirtheit iſt der Ceremonien¬ meiſter des Unvermoͤgens auf jedem Gebiete, und ſie iſt es, welche die friſchen Geiſter von jedem Gebiete wegſcheucht, wo ſie ſich breit macht.
Nach der Lehre von der Suͤnde kam gleich die Lehre vom Glauben, als der Erloͤſung von jener, und auf ſie ward eigentlich das Haupt¬ gewicht des ganzen Unterrichtes gelegt; trotz aller Beifuͤgungen, wie daß auch gute Werke vonnoͤthen ſeien, blieb der Schlußgeſang doch immer und allein: Der Glaube macht ſelig! und dies uns einleuchtend zu machen als herangewachſenen jun¬ gen Leuten, wandte der geiſtliche Mann die moͤg¬ lichſt annehmliche und vernuͤnftig ſcheinende Be¬ redtſamkeit auf. Wenn ich auf den hoͤchſten Berg laufe und den Himmel abzaͤhle, Stern fuͤr Stern,
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hoͤrt, fuͤr ſich ſelber das Bekenntniß der Suͤnden
profeſſionsmaͤßig betreiben, verwandelt jene natuͤr¬
liche und unbefangene Selbſterkenntniß mit Einem
Schlage in ein manierirtes Zopfthum, aus welchem
mich eine unſaͤgliche froſtige Nuͤchternheit und
Schlaffheit anweht. Daher gedeiht dieſe Lehre
am beſten bei den entnervten und erſchoͤpften
Seelen; denn die Manierirtheit iſt der Ceremonien¬
meiſter des Unvermoͤgens auf jedem Gebiete, und
ſie iſt es, welche die friſchen Geiſter von jedem
Gebiete wegſcheucht, wo ſie ſich breit macht.
Nach der Lehre von der Suͤnde kam gleich
die Lehre vom Glauben, als der Erloͤſung von
jener, und auf ſie ward eigentlich das Haupt¬
gewicht des ganzen Unterrichtes gelegt; trotz aller
Beifuͤgungen, wie daß auch gute Werke vonnoͤthen
ſeien, blieb der Schlußgeſang doch immer und
allein: Der Glaube macht ſelig! und dies uns
einleuchtend zu machen als herangewachſenen jun¬
gen Leuten, wandte der geiſtliche Mann die moͤg¬
lichſt annehmliche und vernuͤnftig ſcheinende Be¬
redtſamkeit auf. Wenn ich auf den hoͤchſten Berg
laufe und den Himmel abzaͤhle, Stern fuͤr Stern,
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/311>, abgerufen am 24.11.2024.
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