und Reue zusammen, und es giebt allerdings eine Hälfte Menschen, welche ihr Leben hindurch an der einen Hand die Sünde, an der anderen Hand die Reue gleichzeitig führen, ohne sich je zu än¬ dern; aber ebenso gewiß giebt es eine Hälfte, welche im Verhältniß zu ihrer Erfahrung und Verantwortlichkeit in einem gewissen Grade von Schuldlosigkeit lebt, und jeder Einzelne, wenn er sich recht besinnen will, kennt gewiß Einzelne, bei welchen diese Schuldlosigkeit zu völliger Rein¬ heit wird. Möge nun dieses auch eine bloße Folge von zusammengetroffenen glücklichen Umständen sein, so daß solche Erscheinungen z. B. durch ein passives Fernsein vom Bösen von jeher schuld¬ los blieben: warum denn nicht ebenso gern an eine Unschuld des Glückes, ja der Geburt glauben, als an eine Schuld des Mißgeschickes, der Vor¬ herbestimmung? Solchen Glücklichen, welche, ohne zu wissen warum und wie? gerecht und rein sind, die Phantasie verderben und verun¬ reinigen mit dem Gedanken angeborener ekler Sündlichkeit, ist im höchsten Grade unnütz und abgeschmackt, und wenn man nicht zu ihnen ge¬
und Reue zuſammen, und es giebt allerdings eine Haͤlfte Menſchen, welche ihr Leben hindurch an der einen Hand die Suͤnde, an der anderen Hand die Reue gleichzeitig fuͤhren, ohne ſich je zu aͤn¬ dern; aber ebenſo gewiß giebt es eine Haͤlfte, welche im Verhaͤltniß zu ihrer Erfahrung und Verantwortlichkeit in einem gewiſſen Grade von Schuldloſigkeit lebt, und jeder Einzelne, wenn er ſich recht beſinnen will, kennt gewiß Einzelne, bei welchen dieſe Schuldloſigkeit zu voͤlliger Rein¬ heit wird. Moͤge nun dieſes auch eine bloße Folge von zuſammengetroffenen gluͤcklichen Umſtaͤnden ſein, ſo daß ſolche Erſcheinungen z. B. durch ein paſſives Fernſein vom Boͤſen von jeher ſchuld¬ los blieben: warum denn nicht ebenſo gern an eine Unſchuld des Gluͤckes, ja der Geburt glauben, als an eine Schuld des Mißgeſchickes, der Vor¬ herbeſtimmung? Solchen Gluͤcklichen, welche, ohne zu wiſſen warum und wie? gerecht und rein ſind, die Phantaſie verderben und verun¬ reinigen mit dem Gedanken angeborener ekler Suͤndlichkeit, iſt im hoͤchſten Grade unnuͤtz und abgeſchmackt, und wenn man nicht zu ihnen ge¬
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und Reue zuſammen, und es giebt allerdings eine
Haͤlfte Menſchen, welche ihr Leben hindurch an
der einen Hand die Suͤnde, an der anderen Hand
die Reue gleichzeitig fuͤhren, ohne ſich je zu aͤn¬
dern; aber ebenſo gewiß giebt es eine Haͤlfte,
welche im Verhaͤltniß zu ihrer Erfahrung und
Verantwortlichkeit in einem gewiſſen Grade von
Schuldloſigkeit lebt, und jeder Einzelne, wenn er
ſich recht beſinnen will, kennt gewiß Einzelne,
bei welchen dieſe Schuldloſigkeit zu voͤlliger Rein¬
heit wird. Moͤge nun dieſes auch eine bloße Folge
von zuſammengetroffenen gluͤcklichen Umſtaͤnden
ſein, ſo daß ſolche Erſcheinungen z. B. durch
ein paſſives Fernſein vom Boͤſen von jeher ſchuld¬
los blieben: warum denn nicht ebenſo gern an
eine Unſchuld des Gluͤckes, ja der Geburt glauben,
als an eine Schuld des Mißgeſchickes, der Vor¬
herbeſtimmung? Solchen Gluͤcklichen, welche,
ohne zu wiſſen warum und wie? gerecht und
rein ſind, die Phantaſie verderben und verun¬
reinigen mit dem Gedanken angeborener ekler
Suͤndlichkeit, iſt im hoͤchſten Grade unnuͤtz und
abgeſchmackt, und wenn man nicht zu ihnen ge¬
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/310>, abgerufen am 24.11.2024.
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