Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

"aufzusagen", d. h. in der öffentlichen Kinderlehre
nach vorhergegangener Einübung einige auswendig
gelernte Fragen zu beantworten und schließlich
eine Liederstrophe herzusagen. Dies war vor vie¬
len Jahren schon eine Pein für mich gewesen,
nun aber geradezu unerträglich; und doch unter¬
zog ich mich dem Gebrauche oder mußte es viel¬
mehr, da, abgesehen von dem Kummer, den ich
meiner Mutter gemacht hätte, das endliche ge¬
setzliche Loskommen daran geknüpft war. Auf
die nächste Weihnacht sollte ich nun confirmirt
werden, was mir ungeachtet der gänzlichen Frei¬
heit, welche mir nachher winkte, große Sorgen
verursachte. Daher äußerte ich mein Antichri¬
stenthum jetzt gegen den Schulmeister mehr, als
ich sonst gethan haben würde, obgleich es in
ganz anderer Weise geschah, als wenn ich mit
dem Philosophen zusammen war; ich mußte
nicht nur den Vater Anna's, sondern überhaupt
den bejahrten Mann ehren, und besonders seine
duldsame und liebevolle Weise schrieb mir von
selber vor, mich in meinem Ausdrücken mit
Maß und Bescheidenheit zu benehmen und sogar

»aufzuſagen«, d. h. in der oͤffentlichen Kinderlehre
nach vorhergegangener Einuͤbung einige auswendig
gelernte Fragen zu beantworten und ſchließlich
eine Liederſtrophe herzuſagen. Dies war vor vie¬
len Jahren ſchon eine Pein fuͤr mich geweſen,
nun aber geradezu unertraͤglich; und doch unter¬
zog ich mich dem Gebrauche oder mußte es viel¬
mehr, da, abgeſehen von dem Kummer, den ich
meiner Mutter gemacht haͤtte, das endliche ge¬
ſetzliche Loskommen daran geknuͤpft war. Auf
die naͤchſte Weihnacht ſollte ich nun confirmirt
werden, was mir ungeachtet der gaͤnzlichen Frei¬
heit, welche mir nachher winkte, große Sorgen
verurſachte. Daher aͤußerte ich mein Antichri¬
ſtenthum jetzt gegen den Schulmeiſter mehr, als
ich ſonſt gethan haben wuͤrde, obgleich es in
ganz anderer Weiſe geſchah, als wenn ich mit
dem Philoſophen zuſammen war; ich mußte
nicht nur den Vater Anna's, ſondern uͤberhaupt
den bejahrten Mann ehren, und beſonders ſeine
duldſame und liebevolle Weiſe ſchrieb mir von
ſelber vor, mich in meinem Ausdruͤcken mit
Maß und Beſcheidenheit zu benehmen und ſogar

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0297" n="287"/>
»aufzu&#x017F;agen«, d. h. in der o&#x0364;ffentlichen Kinderlehre<lb/>
nach vorhergegangener Einu&#x0364;bung einige auswendig<lb/>
gelernte Fragen zu beantworten und &#x017F;chließlich<lb/>
eine Lieder&#x017F;trophe herzu&#x017F;agen. Dies war vor vie¬<lb/>
len Jahren &#x017F;chon eine Pein fu&#x0364;r mich gewe&#x017F;en,<lb/>
nun aber geradezu unertra&#x0364;glich; und doch unter¬<lb/>
zog ich mich dem Gebrauche oder mußte es viel¬<lb/>
mehr, da, abge&#x017F;ehen von dem Kummer, den ich<lb/>
meiner Mutter gemacht ha&#x0364;tte, das endliche ge¬<lb/>
&#x017F;etzliche Loskommen daran geknu&#x0364;pft war. Auf<lb/>
die na&#x0364;ch&#x017F;te Weihnacht &#x017F;ollte ich nun confirmirt<lb/>
werden, was mir ungeachtet der ga&#x0364;nzlichen Frei¬<lb/>
heit, welche mir nachher winkte, große Sorgen<lb/>
verur&#x017F;achte. Daher a&#x0364;ußerte ich mein Antichri¬<lb/>
&#x017F;tenthum jetzt gegen den Schulmei&#x017F;ter mehr, als<lb/>
ich &#x017F;on&#x017F;t gethan haben wu&#x0364;rde, obgleich es in<lb/>
ganz anderer Wei&#x017F;e ge&#x017F;chah, als wenn ich mit<lb/>
dem Philo&#x017F;ophen zu&#x017F;ammen war; ich mußte<lb/>
nicht nur den Vater Anna's, &#x017F;ondern u&#x0364;berhaupt<lb/>
den bejahrten Mann ehren, und be&#x017F;onders &#x017F;eine<lb/>
duld&#x017F;ame und liebevolle Wei&#x017F;e &#x017F;chrieb mir von<lb/>
&#x017F;elber vor, mich in meinem Ausdru&#x0364;cken mit<lb/>
Maß und Be&#x017F;cheidenheit zu benehmen und &#x017F;ogar<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0297] »aufzuſagen«, d. h. in der oͤffentlichen Kinderlehre nach vorhergegangener Einuͤbung einige auswendig gelernte Fragen zu beantworten und ſchließlich eine Liederſtrophe herzuſagen. Dies war vor vie¬ len Jahren ſchon eine Pein fuͤr mich geweſen, nun aber geradezu unertraͤglich; und doch unter¬ zog ich mich dem Gebrauche oder mußte es viel¬ mehr, da, abgeſehen von dem Kummer, den ich meiner Mutter gemacht haͤtte, das endliche ge¬ ſetzliche Loskommen daran geknuͤpft war. Auf die naͤchſte Weihnacht ſollte ich nun confirmirt werden, was mir ungeachtet der gaͤnzlichen Frei¬ heit, welche mir nachher winkte, große Sorgen verurſachte. Daher aͤußerte ich mein Antichri¬ ſtenthum jetzt gegen den Schulmeiſter mehr, als ich ſonſt gethan haben wuͤrde, obgleich es in ganz anderer Weiſe geſchah, als wenn ich mit dem Philoſophen zuſammen war; ich mußte nicht nur den Vater Anna's, ſondern uͤberhaupt den bejahrten Mann ehren, und beſonders ſeine duldſame und liebevolle Weiſe ſchrieb mir von ſelber vor, mich in meinem Ausdruͤcken mit Maß und Beſcheidenheit zu benehmen und ſogar

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/297
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/297>, abgerufen am 23.11.2024.