tes und der Natur, zu oberst stand. Daher war er sehr bewandert in den memoirenartigen Schriften geistreich andächtiger Leute aus ver¬ schiedenen Nationen, und er besaß und kannte seltene und berühmte Bücher dieser Art, die ihm die Ueberlieferung gleicher Bedürfnisse in die Hände gegeben hatte. Es war viel Schönes, Vor¬ nehmes und allgemein Wahres zu lesen in diesen Büchern und ich hörte mit Bescheidenheit und Wohlgefallen seinen Vorträgen zu, indem das Grübeln nach dem Wahren und Guten mich immer mehr anzog. Meine Einsprachen bestan¬ den darin, daß ich gegen das Christliche prote¬ stirte, welches das alleinige Merkzeichen alles Gu¬ ten sein sollte. Ich befand mich in dieser Hin¬ sicht in einem peinlichen Zerwürfnisse. Während ich die Person Christi liebte, wenn sie auch, wie ich glaubte, in der Vollendung, wie sie dasteht, eine Sage sein sollte, und während ich vielfach das Wohlthuende ihrer Erinnerung empfand, war ich doch gegen Alles, was sich Christlich nannte, ganz feindlich gesinnt geworden, ohne recht zu wissen warum, und ich war sogar froh,
tes und der Natur, zu oberſt ſtand. Daher war er ſehr bewandert in den memoirenartigen Schriften geiſtreich andaͤchtiger Leute aus ver¬ ſchiedenen Nationen, und er beſaß und kannte ſeltene und beruͤhmte Buͤcher dieſer Art, die ihm die Ueberlieferung gleicher Beduͤrfniſſe in die Haͤnde gegeben hatte. Es war viel Schoͤnes, Vor¬ nehmes und allgemein Wahres zu leſen in dieſen Buͤchern und ich hoͤrte mit Beſcheidenheit und Wohlgefallen ſeinen Vortraͤgen zu, indem das Gruͤbeln nach dem Wahren und Guten mich immer mehr anzog. Meine Einſprachen beſtan¬ den darin, daß ich gegen das Chriſtliche prote¬ ſtirte, welches das alleinige Merkzeichen alles Gu¬ ten ſein ſollte. Ich befand mich in dieſer Hin¬ ſicht in einem peinlichen Zerwuͤrfniſſe. Waͤhrend ich die Perſon Chriſti liebte, wenn ſie auch, wie ich glaubte, in der Vollendung, wie ſie daſteht, eine Sage ſein ſollte, und waͤhrend ich vielfach das Wohlthuende ihrer Erinnerung empfand, war ich doch gegen Alles, was ſich Chriſtlich nannte, ganz feindlich geſinnt geworden, ohne recht zu wiſſen warum, und ich war ſogar froh,
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tes und der Natur, zu oberſt ſtand. Daher
war er ſehr bewandert in den memoirenartigen
Schriften geiſtreich andaͤchtiger Leute aus ver¬
ſchiedenen Nationen, und er beſaß und kannte
ſeltene und beruͤhmte Buͤcher dieſer Art, die ihm
die Ueberlieferung gleicher Beduͤrfniſſe in die Haͤnde
gegeben hatte. Es war viel Schoͤnes, Vor¬
nehmes und allgemein Wahres zu leſen in dieſen
Buͤchern und ich hoͤrte mit Beſcheidenheit und
Wohlgefallen ſeinen Vortraͤgen zu, indem das
Gruͤbeln nach dem Wahren und Guten mich
immer mehr anzog. Meine Einſprachen beſtan¬
den darin, daß ich gegen das Chriſtliche prote¬
ſtirte, welches das alleinige Merkzeichen alles Gu¬
ten ſein ſollte. Ich befand mich in dieſer Hin¬
ſicht in einem peinlichen Zerwuͤrfniſſe. Waͤhrend
ich die Perſon Chriſti liebte, wenn ſie auch, wie
ich glaubte, in der Vollendung, wie ſie daſteht,
eine Sage ſein ſollte, und waͤhrend ich vielfach
das Wohlthuende ihrer Erinnerung empfand,
war ich doch gegen Alles, was ſich Chriſtlich
nannte, ganz feindlich geſinnt geworden, ohne
recht zu wiſſen warum, und ich war ſogar froh,
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/295>, abgerufen am 27.11.2024.
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