Höchst zufrieden zog ich mich in das Dach¬ stübchen zurück, wo ich meinen Sitz aufgeschla¬ gen hatte, und verträumte dort eine kleine Stunde in der größten Seligkeit. Anna kam mir so lie¬ benswerth und köstlich vor, wie noch niemals, und indem mein eigensüchtiger Sinn sie sich nun unentrinnbar verfallen dachte, bedauerte ich sie in ihrer Feinheit beinahe und fühlte eine Art zärtlichen Mitleidens mit ihr. Doch machte ich mich bald wieder auf die Beine und schlich, da die Septembersonne sich schon zu neigen begann, dem Garten zu, um dem Tage die Krone auf¬ zusetzen und zu sehen, ob ich Anna nach Hause geleiten könnte, zum ersten Male wieder seit den schönen Kindertagen. Sie aber war schon fort und allein über den Berg gegangen, die Basen räumten ihre Arbeit zusammen und thaten sehr gleichmüthig und ruhig, ich überblickte den leeren Tisch, hütete mich aber wohl zu fragen, ob Anna das Papier wirklich mitgenommen habe, und schlenderte das Thal hinauf in den Schatten hinein, unmuthig wie Einer, welcher von einem fröhlichen Mittagsmahle kommt und
Hoͤchſt zufrieden zog ich mich in das Dach¬ ſtuͤbchen zuruͤck, wo ich meinen Sitz aufgeſchla¬ gen hatte, und vertraͤumte dort eine kleine Stunde in der groͤßten Seligkeit. Anna kam mir ſo lie¬ benswerth und koͤſtlich vor, wie noch niemals, und indem mein eigenſuͤchtiger Sinn ſie ſich nun unentrinnbar verfallen dachte, bedauerte ich ſie in ihrer Feinheit beinahe und fuͤhlte eine Art zaͤrtlichen Mitleidens mit ihr. Doch machte ich mich bald wieder auf die Beine und ſchlich, da die Septemberſonne ſich ſchon zu neigen begann, dem Garten zu, um dem Tage die Krone auf¬ zuſetzen und zu ſehen, ob ich Anna nach Hauſe geleiten koͤnnte, zum erſten Male wieder ſeit den ſchoͤnen Kindertagen. Sie aber war ſchon fort und allein uͤber den Berg gegangen, die Baſen raͤumten ihre Arbeit zuſammen und thaten ſehr gleichmuͤthig und ruhig, ich uͤberblickte den leeren Tiſch, huͤtete mich aber wohl zu fragen, ob Anna das Papier wirklich mitgenommen habe, und ſchlenderte das Thal hinauf in den Schatten hinein, unmuthig wie Einer, welcher von einem froͤhlichen Mittagsmahle kommt und
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Hoͤchſt zufrieden zog ich mich in das Dach¬
ſtuͤbchen zuruͤck, wo ich meinen Sitz aufgeſchla¬
gen hatte, und vertraͤumte dort eine kleine Stunde
in der groͤßten Seligkeit. Anna kam mir ſo lie¬
benswerth und koͤſtlich vor, wie noch niemals,
und indem mein eigenſuͤchtiger Sinn ſie ſich nun
unentrinnbar verfallen dachte, bedauerte ich ſie
in ihrer Feinheit beinahe und fuͤhlte eine Art
zaͤrtlichen Mitleidens mit ihr. Doch machte ich
mich bald wieder auf die Beine und ſchlich, da
die Septemberſonne ſich ſchon zu neigen begann,
dem Garten zu, um dem Tage die Krone auf¬
zuſetzen und zu ſehen, ob ich Anna nach Hauſe
geleiten koͤnnte, zum erſten Male wieder ſeit den
ſchoͤnen Kindertagen. Sie aber war ſchon fort
und allein uͤber den Berg gegangen, die Baſen
raͤumten ihre Arbeit zuſammen und thaten
ſehr gleichmuͤthig und ruhig, ich uͤberblickte den
leeren Tiſch, huͤtete mich aber wohl zu fragen,
ob Anna das Papier wirklich mitgenommen
habe, und ſchlenderte das Thal hinauf in den
Schatten hinein, unmuthig wie Einer, welcher
von einem froͤhlichen Mittagsmahle kommt und
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/290>, abgerufen am 23.11.2024.
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