Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

eine noch hohe und kraftvolle alte Frau darunter,
welche aufrecht heranschritt und mit Seelenruhe
auf mich sah, dann folgte aber gleich wieder ein
gebeugtes Mütterchen, welche an ihrem eigenen
Leiden dasjenige der Geschiedenen zu kennen und
zu schätzen schien. Doch wurden die Frauen im¬
mer jünger und in gleichem Verhältnisse mehrte
sich die Zahl; die Stube war nun vollständig
mit dunklen Gestalten angefüllt, die sich herbei¬
drängten, Weiber von vierzig und dreißig Jah¬
ren, voll Beweglichkeit und Neugierde, die ver¬
schiedenen Leidenschaften und Eigenthümlichkeiten
waren kaum durch die gleichmachende Trauer¬
haltung verschleiert. Der Andrang schien kein
Ende nehmen zu wollen; denn nicht nur das
ganze Dorf, sondern auch viele Frauen aus der
Umgegend waren erschienen, weil die Großmutter
eines großen Ruhmes unter ihnen genoß, der,
zum Theil verjährt, jetzt noch einmal in vollem
Glanze sich geltend machte. Endlich wurden die
Hände glätter und weicher, das jüngste Geschlecht
zog vorüber und ich war schon ganz mürbe und
müde, als meine Basen herzutraten, mir auf¬

eine noch hohe und kraftvolle alte Frau darunter,
welche aufrecht heranſchritt und mit Seelenruhe
auf mich ſah, dann folgte aber gleich wieder ein
gebeugtes Muͤtterchen, welche an ihrem eigenen
Leiden dasjenige der Geſchiedenen zu kennen und
zu ſchaͤtzen ſchien. Doch wurden die Frauen im¬
mer juͤnger und in gleichem Verhaͤltniſſe mehrte
ſich die Zahl; die Stube war nun vollſtaͤndig
mit dunklen Geſtalten angefuͤllt, die ſich herbei¬
draͤngten, Weiber von vierzig und dreißig Jah¬
ren, voll Beweglichkeit und Neugierde, die ver¬
ſchiedenen Leidenſchaften und Eigenthuͤmlichkeiten
waren kaum durch die gleichmachende Trauer¬
haltung verſchleiert. Der Andrang ſchien kein
Ende nehmen zu wollen; denn nicht nur das
ganze Dorf, ſondern auch viele Frauen aus der
Umgegend waren erſchienen, weil die Großmutter
eines großen Ruhmes unter ihnen genoß, der,
zum Theil verjaͤhrt, jetzt noch einmal in vollem
Glanze ſich geltend machte. Endlich wurden die
Haͤnde glaͤtter und weicher, das juͤngſte Geſchlecht
zog voruͤber und ich war ſchon ganz muͤrbe und
muͤde, als meine Baſen herzutraten, mir auf¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0143" n="133"/>
eine noch hohe und kraftvolle alte Frau darunter,<lb/>
welche aufrecht heran&#x017F;chritt und mit Seelenruhe<lb/>
auf mich &#x017F;ah, dann folgte aber gleich wieder ein<lb/>
gebeugtes Mu&#x0364;tterchen, welche an ihrem eigenen<lb/>
Leiden dasjenige der Ge&#x017F;chiedenen zu kennen und<lb/>
zu &#x017F;cha&#x0364;tzen &#x017F;chien. Doch wurden die Frauen im¬<lb/>
mer ju&#x0364;nger und in gleichem Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e mehrte<lb/>
&#x017F;ich die Zahl; die Stube war nun voll&#x017F;ta&#x0364;ndig<lb/>
mit dunklen Ge&#x017F;talten angefu&#x0364;llt, die &#x017F;ich herbei¬<lb/>
dra&#x0364;ngten, Weiber von vierzig und dreißig Jah¬<lb/>
ren, voll Beweglichkeit und Neugierde, die ver¬<lb/>
&#x017F;chiedenen Leiden&#x017F;chaften und Eigenthu&#x0364;mlichkeiten<lb/>
waren kaum durch die gleichmachende Trauer¬<lb/>
haltung ver&#x017F;chleiert. Der Andrang &#x017F;chien kein<lb/>
Ende nehmen zu wollen; denn nicht nur das<lb/>
ganze Dorf, &#x017F;ondern auch viele Frauen aus der<lb/>
Umgegend waren er&#x017F;chienen, weil die Großmutter<lb/>
eines großen Ruhmes unter ihnen genoß, der,<lb/>
zum Theil verja&#x0364;hrt, jetzt noch einmal in vollem<lb/>
Glanze &#x017F;ich geltend machte. Endlich wurden die<lb/>
Ha&#x0364;nde gla&#x0364;tter und weicher, das ju&#x0364;ng&#x017F;te Ge&#x017F;chlecht<lb/>
zog voru&#x0364;ber und ich war &#x017F;chon ganz mu&#x0364;rbe und<lb/>
mu&#x0364;de, als meine Ba&#x017F;en herzutraten, mir auf¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[133/0143] eine noch hohe und kraftvolle alte Frau darunter, welche aufrecht heranſchritt und mit Seelenruhe auf mich ſah, dann folgte aber gleich wieder ein gebeugtes Muͤtterchen, welche an ihrem eigenen Leiden dasjenige der Geſchiedenen zu kennen und zu ſchaͤtzen ſchien. Doch wurden die Frauen im¬ mer juͤnger und in gleichem Verhaͤltniſſe mehrte ſich die Zahl; die Stube war nun vollſtaͤndig mit dunklen Geſtalten angefuͤllt, die ſich herbei¬ draͤngten, Weiber von vierzig und dreißig Jah¬ ren, voll Beweglichkeit und Neugierde, die ver¬ ſchiedenen Leidenſchaften und Eigenthuͤmlichkeiten waren kaum durch die gleichmachende Trauer¬ haltung verſchleiert. Der Andrang ſchien kein Ende nehmen zu wollen; denn nicht nur das ganze Dorf, ſondern auch viele Frauen aus der Umgegend waren erſchienen, weil die Großmutter eines großen Ruhmes unter ihnen genoß, der, zum Theil verjaͤhrt, jetzt noch einmal in vollem Glanze ſich geltend machte. Endlich wurden die Haͤnde glaͤtter und weicher, das juͤngſte Geſchlecht zog voruͤber und ich war ſchon ganz muͤrbe und muͤde, als meine Baſen herzutraten, mir auf¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/143
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/143>, abgerufen am 23.11.2024.