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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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Und als das Liedchen zu Ende war, lagen
unsere Lippen dicht auf einander, aber ohne sich
zu regen; wir küßten uns nicht und dachten gar
nicht daran, nur unser Hauch vermischte sich auf
der neuen, noch ungebrauchten Brücke und das
Herz blieb froh und ruhig.

Am andern Morgen war Anna wieder wie
gewöhnlich, still und freundlich; der Schulmei¬
ster begehrte die Zeichnung bei Tage zu besehen,
und da ergab es sich, daß sie von Anna schon
in den unzugänglichsten Gelassen ihres Kämmer¬
chen verwahrt und begraben worden. Sie mußte
dieselbe aber wieder hervorholen, was sie ungern
that, der Vater nahm einen Rahmen von der
Wand, in welchem eine vergilbte und verdorbene
Gedächtnißtafel der Theuerung von 1817 hing,
nahm sie heraus und steckte den frischen bunten
Bogen hinter das Glas. "Es ist endlich Zeit,
daß wir dies traurige Denkmal von der Wand
nehmen," sagte er, "da es selber nicht länger
vorhalten will. Wir wollen es zu anderen ver¬
schollenen und verborgenen Denkzeichen legen und
dafür dieses blühende Bild des Lebens auf¬

Und als das Liedchen zu Ende war, lagen
unſere Lippen dicht auf einander, aber ohne ſich
zu regen; wir kuͤßten uns nicht und dachten gar
nicht daran, nur unſer Hauch vermiſchte ſich auf
der neuen, noch ungebrauchten Bruͤcke und das
Herz blieb froh und ruhig.

Am andern Morgen war Anna wieder wie
gewoͤhnlich, ſtill und freundlich; der Schulmei¬
ſter begehrte die Zeichnung bei Tage zu beſehen,
und da ergab es ſich, daß ſie von Anna ſchon
in den unzugaͤnglichſten Gelaſſen ihres Kaͤmmer¬
chen verwahrt und begraben worden. Sie mußte
dieſelbe aber wieder hervorholen, was ſie ungern
that, der Vater nahm einen Rahmen von der
Wand, in welchem eine vergilbte und verdorbene
Gedaͤchtnißtafel der Theuerung von 1817 hing,
nahm ſie heraus und ſteckte den friſchen bunten
Bogen hinter das Glas. »Es iſt endlich Zeit,
daß wir dies traurige Denkmal von der Wand
nehmen,« ſagte er, »da es ſelber nicht laͤnger
vorhalten will. Wir wollen es zu anderen ver¬
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[120/0130] Und als das Liedchen zu Ende war, lagen unſere Lippen dicht auf einander, aber ohne ſich zu regen; wir kuͤßten uns nicht und dachten gar nicht daran, nur unſer Hauch vermiſchte ſich auf der neuen, noch ungebrauchten Bruͤcke und das Herz blieb froh und ruhig. Am andern Morgen war Anna wieder wie gewoͤhnlich, ſtill und freundlich; der Schulmei¬ ſter begehrte die Zeichnung bei Tage zu beſehen, und da ergab es ſich, daß ſie von Anna ſchon in den unzugaͤnglichſten Gelaſſen ihres Kaͤmmer¬ chen verwahrt und begraben worden. Sie mußte dieſelbe aber wieder hervorholen, was ſie ungern that, der Vater nahm einen Rahmen von der Wand, in welchem eine vergilbte und verdorbene Gedaͤchtnißtafel der Theuerung von 1817 hing, nahm ſie heraus und ſteckte den friſchen bunten Bogen hinter das Glas. »Es iſt endlich Zeit, daß wir dies traurige Denkmal von der Wand nehmen,« ſagte er, »da es ſelber nicht laͤnger vorhalten will. Wir wollen es zu anderen ver¬ ſchollenen und verborgenen Denkzeichen legen und dafuͤr dieſes bluͤhende Bild des Lebens auf¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/130>, abgerufen am 27.11.2024.