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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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thut. Ich erinnere mich jetzt wirklich, daß in
meiner Heimath dem Reisenden ähnliche Unan¬
nehmlichkeiten widerfahren, indem dort das Land¬
volk, wenn es von Begegnenden nicht gegrüßt,
oder sein Gruß nicht erwiedert wird, dem Feh¬
lenden Schimpf und Spott nachsendet. Dabei
herrscht eine so genaue Etiquette, daß der An¬
kommende oder Vorübergehende denjenigen, der
an einer Stelle sitzt oder steht, zuerst begrüßen
muß, wenn er nicht ausgescholten werden will."

"Da scheint mir aber doch eine schönere Sitte
allgemeiner Freundlichkeit und Zutraulichkeit zu
Grunde zu liegen, als die tolle Respectwuth un¬
serer Honoratioren ist. Oder ist es vielleicht die
gleiche moralische Triebfeder, indem Ihr Land¬
volk sich als republikanischer Souverain respectirt
wissen will?"

"Durchaus nicht! Das Volk bei uns hat
nicht nöthig, sich seine Bedeutung durch solche
Dinge zu vergegenwärtigen; es athmet seine Le¬
bensluft, ohne daran zu denken: der Herzschlag
seines politischen Lebens gehört eben sowohl zu
den unwillkürlichen Bewegungen, als derjenige

thut. Ich erinnere mich jetzt wirklich, daß in
meiner Heimath dem Reiſenden aͤhnliche Unan¬
nehmlichkeiten widerfahren, indem dort das Land¬
volk, wenn es von Begegnenden nicht gegruͤßt,
oder ſein Gruß nicht erwiedert wird, dem Feh¬
lenden Schimpf und Spott nachſendet. Dabei
herrſcht eine ſo genaue Etiquette, daß der An¬
kommende oder Voruͤbergehende denjenigen, der
an einer Stelle ſitzt oder ſteht, zuerſt begruͤßen
muß, wenn er nicht ausgeſcholten werden will.«

»Da ſcheint mir aber doch eine ſchoͤnere Sitte
allgemeiner Freundlichkeit und Zutraulichkeit zu
Grunde zu liegen, als die tolle Reſpectwuth un¬
ſerer Honoratioren iſt. Oder iſt es vielleicht die
gleiche moraliſche Triebfeder, indem Ihr Land¬
volk ſich als republikaniſcher Souverain reſpectirt
wiſſen will?«

»Durchaus nicht! Das Volk bei uns hat
nicht noͤthig, ſich ſeine Bedeutung durch ſolche
Dinge zu vergegenwaͤrtigen; es athmet ſeine Le¬
bensluft, ohne daran zu denken: der Herzſchlag
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[70/0084] thut. Ich erinnere mich jetzt wirklich, daß in meiner Heimath dem Reiſenden aͤhnliche Unan¬ nehmlichkeiten widerfahren, indem dort das Land¬ volk, wenn es von Begegnenden nicht gegruͤßt, oder ſein Gruß nicht erwiedert wird, dem Feh¬ lenden Schimpf und Spott nachſendet. Dabei herrſcht eine ſo genaue Etiquette, daß der An¬ kommende oder Voruͤbergehende denjenigen, der an einer Stelle ſitzt oder ſteht, zuerſt begruͤßen muß, wenn er nicht ausgeſcholten werden will.« »Da ſcheint mir aber doch eine ſchoͤnere Sitte allgemeiner Freundlichkeit und Zutraulichkeit zu Grunde zu liegen, als die tolle Reſpectwuth un¬ ſerer Honoratioren iſt. Oder iſt es vielleicht die gleiche moraliſche Triebfeder, indem Ihr Land¬ volk ſich als republikaniſcher Souverain reſpectirt wiſſen will?« »Durchaus nicht! Das Volk bei uns hat nicht noͤthig, ſich ſeine Bedeutung durch ſolche Dinge zu vergegenwaͤrtigen; es athmet ſeine Le¬ bensluft, ohne daran zu denken: der Herzſchlag ſeines politiſchen Lebens gehoͤrt eben ſowohl zu den unwillkuͤrlichen Bewegungen, als derjenige

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/84>, abgerufen am 22.11.2024.