Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Endlich kam die Reihe an mich; der letzte
Trupp erschien wieder und hieß mich hineingehen.
Ich wollte fragen, was denn vorginge, erhielt
aber keine Antwort, vielmehr sputeten sie sich
ängstlich von hinnen. So trat ich in die Neben¬
stube, halb von Neugierde vorwärts gedrängt,
halb von jener beklemmenden Furcht zurückgehal¬
ten, welche die Jugend vor den Alten empfindet,
wenn sie ihnen an Verstand überlegene und all¬
mächtige Wesen voraussetzt. Es saßen zwei
Herren am oberen Ende eines langen Tisches,
zu dessen Fuß ich stand, einige Stücke Papier
und ein Bleistift vor sich. Der Eine war der
nächste Vorsteher der Schule, der auch selbst Un¬
terricht ertheilte und mich kannte, der Andere ein
höherer gelehrter Herr, welcher wenig sagte. Zu
Jenem stand ich in einem eigenthümlichen Ver¬
hältnisse; er war ein gemüthlicher Poltron, gern
viele Worte machend und froh, wenn ein Schüler
durch bescheidene Widerrede ihm Gelegenheit gab,
sich gründlich über ein Faktum zu verbreiten. Im
Anfange hatte er mir wohl gewollt, da ich gerade
bei ihm mich sehr ordentlich aufführte; aber meine

Endlich kam die Reihe an mich; der letzte
Trupp erſchien wieder und hieß mich hineingehen.
Ich wollte fragen, was denn vorginge, erhielt
aber keine Antwort, vielmehr ſputeten ſie ſich
aͤngſtlich von hinnen. So trat ich in die Neben¬
ſtube, halb von Neugierde vorwaͤrts gedraͤngt,
halb von jener beklemmenden Furcht zuruͤckgehal¬
ten, welche die Jugend vor den Alten empfindet,
wenn ſie ihnen an Verſtand uͤberlegene und all¬
maͤchtige Weſen vorausſetzt. Es ſaßen zwei
Herren am oberen Ende eines langen Tiſches,
zu deſſen Fuß ich ſtand, einige Stuͤcke Papier
und ein Bleiſtift vor ſich. Der Eine war der
naͤchſte Vorſteher der Schule, der auch ſelbſt Un¬
terricht ertheilte und mich kannte, der Andere ein
hoͤherer gelehrter Herr, welcher wenig ſagte. Zu
Jenem ſtand ich in einem eigenthuͤmlichen Ver¬
haͤltniſſe; er war ein gemuͤthlicher Poltron, gern
viele Worte machend und froh, wenn ein Schuͤler
durch beſcheidene Widerrede ihm Gelegenheit gab,
ſich gruͤndlich uͤber ein Faktum zu verbreiten. Im
Anfange hatte er mir wohl gewollt, da ich gerade
bei ihm mich ſehr ordentlich auffuͤhrte; aber meine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0395" n="381"/>
        <p>Endlich kam die Reihe an mich; der letzte<lb/>
Trupp er&#x017F;chien wieder und hieß mich hineingehen.<lb/>
Ich wollte fragen, was denn vorginge, erhielt<lb/>
aber keine Antwort, vielmehr &#x017F;puteten &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
a&#x0364;ng&#x017F;tlich von hinnen. So trat ich in die Neben¬<lb/>
&#x017F;tube, halb von Neugierde vorwa&#x0364;rts gedra&#x0364;ngt,<lb/>
halb von jener beklemmenden Furcht zuru&#x0364;ckgehal¬<lb/>
ten, welche die Jugend vor den Alten empfindet,<lb/>
wenn &#x017F;ie ihnen an Ver&#x017F;tand u&#x0364;berlegene und all¬<lb/>
ma&#x0364;chtige We&#x017F;en voraus&#x017F;etzt. Es &#x017F;aßen zwei<lb/>
Herren am oberen Ende eines langen Ti&#x017F;ches,<lb/>
zu de&#x017F;&#x017F;en Fuß ich &#x017F;tand, einige Stu&#x0364;cke Papier<lb/>
und ein Blei&#x017F;tift vor &#x017F;ich. Der Eine war der<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;te Vor&#x017F;teher der Schule, der auch &#x017F;elb&#x017F;t Un¬<lb/>
terricht ertheilte und mich kannte, der Andere ein<lb/>
ho&#x0364;herer gelehrter Herr, welcher wenig &#x017F;agte. Zu<lb/>
Jenem &#x017F;tand ich in einem eigenthu&#x0364;mlichen Ver¬<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e; er war ein gemu&#x0364;thlicher Poltron, gern<lb/>
viele Worte machend und froh, wenn ein Schu&#x0364;ler<lb/>
durch be&#x017F;cheidene Widerrede ihm Gelegenheit gab,<lb/>
&#x017F;ich gru&#x0364;ndlich u&#x0364;ber ein Faktum zu verbreiten. Im<lb/>
Anfange hatte er mir wohl gewollt, da ich gerade<lb/>
bei ihm mich &#x017F;ehr ordentlich auffu&#x0364;hrte; aber meine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[381/0395] Endlich kam die Reihe an mich; der letzte Trupp erſchien wieder und hieß mich hineingehen. Ich wollte fragen, was denn vorginge, erhielt aber keine Antwort, vielmehr ſputeten ſie ſich aͤngſtlich von hinnen. So trat ich in die Neben¬ ſtube, halb von Neugierde vorwaͤrts gedraͤngt, halb von jener beklemmenden Furcht zuruͤckgehal¬ ten, welche die Jugend vor den Alten empfindet, wenn ſie ihnen an Verſtand uͤberlegene und all¬ maͤchtige Weſen vorausſetzt. Es ſaßen zwei Herren am oberen Ende eines langen Tiſches, zu deſſen Fuß ich ſtand, einige Stuͤcke Papier und ein Bleiſtift vor ſich. Der Eine war der naͤchſte Vorſteher der Schule, der auch ſelbſt Un¬ terricht ertheilte und mich kannte, der Andere ein hoͤherer gelehrter Herr, welcher wenig ſagte. Zu Jenem ſtand ich in einem eigenthuͤmlichen Ver¬ haͤltniſſe; er war ein gemuͤthlicher Poltron, gern viele Worte machend und froh, wenn ein Schuͤler durch beſcheidene Widerrede ihm Gelegenheit gab, ſich gruͤndlich uͤber ein Faktum zu verbreiten. Im Anfange hatte er mir wohl gewollt, da ich gerade bei ihm mich ſehr ordentlich auffuͤhrte; aber meine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/395
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/395>, abgerufen am 25.11.2024.